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Neue Ausgabe der „Gerbergasse 18“ zum Titelthema NACH DEM KRIEG erschienen
Die Hoffnungen auf einen gerechten Frieden für die Ukraine sind – auch dreieinhalb Jahren nach Beginn des russischen Überfalls – vage. Aktuell ist nicht einmal ein Waffenstillstand in Sicht. Jeden Tag fallen Bomben und Menschen sterben. Viele Experten und Beobachter gehen von einem langandauernden Kriegszustand aus, andere befürchten einen baldigen Angriff auf weitere europäische Länder, „wenn Russland in der Ukraine gewinnt“. Die historischen Losungen der Friedensbewegung wirken hilflos, wenn nicht sogar zynisch, angesichts des täglichen Terrors und Tötens. Auch der Gedichttitel „Meinst du, die Russen wollen Krieg?“ von Jewgeni Jewtuschenko aus dem 1961 taugt in der Gegenwart weder als rhetorische Frage noch als Antikriegsbotschaft.
Jede Kritik an den Kriegstreibern im Kreml wird in Russland radikal bekämpft und endet im Gefängnis. Zuletzt traf es die 18-jährige Studentin und Straßenmusikerin Diana „Naoko“ Loginowa mit ihrer Band „Stoptime“, weil sie in Sankt Petersburg vor Publikum spielten. Ihr „Verbrechen“ bestand darin, unter anderem das in Russland gerichtlich verbotene Lied „Kooperative Schwanensee“ des Rappers „Noize MC“ zu singen. Im Lied heißt es: „Ich möchte Ballett sehen – Lass die Schwäne tanzen.“ Eine Anspielung auf das Ballett „Schwanensee“ zur Musik von Pjotr Tschaikowski, das in den 1980er Jahren vom sowjetischen Staatsfernsehen dreimal aus Anlass des Todes von Sowjetführern in Endlosschleife gesendet wurde, das vierte Mal aus Hilflosigkeit während des Putsches gegen Michail Gorbatschow im August 1991. Als der unabhängige russische Nachrichtenkanal „Doschd“ aufgrund von Zensurgesetzen geschlossen werden musste, beendete der Sender am 3. März 2022 sein Programm symbolträchtig mit einer Schwarzweißaufnahme vom „Tanz der vier kleinen Schwäne“ aus dem Ballettklassiker.
Auf Naoko und ihre Bandkollegen, die seit ihrer Verhaftung viele Gesten der Solidarität erhalten haben, warten infolge ihres mutigen Protests vermutlich langjährige Freiheitsstrafen, so wie bei Tausenden vor ihnen. „Schwanensee“ flößt den Machthabenden wohl derartige Angst ein, weil die tanzenden Ballerinas das Ende ihrer eigenen Herrschaft ankündigen, aber die Sage von der verzauberten Schwanenprinzessin auch für den Sieg des Guten über das Böse steht und den Triumph der Liebe über den Tod symbolisiert. Aus dem Vorzeigeprodukt der sowjetrussischen Hochkultur ist heute ein Geheimzeichen für die Agonie eines mörderischen Systems geworden, das sogar Teenager einsperrt.
Der diesjährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel, hat wiederholt vor der aggressiven Expansionspolitik und dem autoritär-nationalistischen Machtanspruch Russlands gewarnt. Er sieht die Ukraine als Teil Europas und fordert dazu auf, das Land um unserer gemeinsamen Zukunft willen zu unterstützen und zu verteidigen. Die aktuelle Situation – 80 Jahre nach dem Kriegsende 1945 – ließ Schlögel in seiner Dankesrede in Frankfurt am Main von einer „neuen Vorkriegszeit“ sprechen, geprägt vom „Wegbrechen eines Erfahrungshorizonts“. In seinem aktuellen Buch „Auf der Sandbank der Zeit“, einer Auswahl von publizistischen Interventionen, schreibt Schlögel: „Historiker wenden ihre ganze Kraft auf die Vergegenwärtigungen der Vergangenheit und auf die Schlüsse, die sie daraus ziehen. Jetzt sind sie als Zeitgenossen, die sie auch sind, eingeholt von der Gegenwart und konfrontiert mit allen Fragen, die sie bisher an die Vergangenheit hatten richten können, und zwar im Ernstfall und in Echtzeit.“
Eine Inhaltsübersicht und Leseproben finden Sie HIER.
Die aktuelle Ausgabe der „Gerbergasse 18“ (Heft 116) ist im Buchhandel oder direkt über die Geschichtswerkstatt Jena erhältlich.
Die fremden Freunde – Fragen an alte und neue Städtepartnerschaften
Im Lauf meines – leider! – letzten Zeitzeugenprojektes mit der Geschichtswerkstatt Jena, wenige Monate vor meinem Ausscheiden aus dem Dienst im Bürgermeister- und Presseamt, kam die Rede auch auf das Partnerschaftsdreieck Erlangen-Jena-Wladimir, das seit dem Überfall der russischen Armee auf die Ukraine offiziell auf Eis liegt, während sich schon im Sommer 2022 die Solidaritätspartnerschaft mit Browary bei Kiew erstaunlich rasch entfaltete. Ich erinnerte bei der Gelegenheit im Gespräch mit Daniel Börner, dem Redakteur der Vierteljahresschrift „Gerbergasse 18“ daran, wie in meiner Zeit des Slawistikstudiums in Bamberg die ganzen 1980er Jahre hindurch für alle, die Land und Leute in der UdSSR kannten, die Zeichen auf Annäherung und Verständigung standen, was sich dann bis zur Jahrtausendwende fortsetzte und bestätigte. Seit dem Amtsantritt von Wladimir Putin freilich, so kurz zusammengefaßt, sei alles Bemühen im zivilgesellschaftlichen deutsch-russischen Austausch immer mehr zu einem Trotzdem geworden.
Der Gast aus Jena wurde hellhörig und bat mich um einen Beitrag für das Jenaer Periodikum. Aber gut Ding will Weile haben. Ich bat um Bedenkzeit, versprach aber, in meinem nicht mehr fernen Ruhestand auf die Sache zurückzukommen. Im Frühjahr 2024 erinnerte mich dann Daniel Börner per E-Mail an meine Zusage: „Ihre Worte zu den abgebrochenen Verbindungen nach Wladimir bzw. Russland beim letzten Treffen im März gingen mir nicht aus dem Kopf (‚Habe ich mich all die Jahre in den Leuten/Partnern getäuscht?‘, ‚Was habe ich übersehen?‘, ‚Hat die Partnerschaftsarbeit der letzten Jahrzehnte gar nichts gebracht/hinterlassen?‘)“
Es dauerte dann noch einige Zeit, bis ich meine Gedanken beisammen hatte und sich in der „Gerbergasse 18“ Platz dafür fand, aber nun sind in der soeben erschienenen aktuellen Ausgabe (Heft 115) auf vier Seiten meine Gedanken unter dem Titel „Die fremden Freunde“ nachzulesen. Für gerade einmal drei Euro und fünfzig Cent erhält man darüber hinaus jede Menge nützlicher Information zur Geschichte der DDR – bis hin zum Beitrag „Fußball hinter Stacheldraht“, das Länderspiel UdSSR gegen Bundesrepublik 1955 aus der Sicht des GULag-Häftlings Roland Bude. Am besten gleich ein Abo abschließen!
An dieser Stelle auch einen herzlichen Dank an meinen Freund und ehemaligen Kollegen Matthias Bettenhäuser aus Jena, der meinen Bericht gegengelesen und noch die eine oder andere Ergänzung beigesteuert hat.
Peter Steger
Slawist/Übersetzer, Erlangen
(Im Bild: Peter Steger im Büro für Internationale Beziehungen der Stadt Erlangen, September 2023. Foto: GWS-Archiv)
