Meldungen des Jahres 2017
Was bilden Karten „tatsächlich“ ab? Vom Umgang mit Karten als historische Quellen. Ein Tagungsbericht
Welch spannende Beschäftigung die Auseinandersetzung mit historischen Karten sein kann, davon konnten sich die Teilnehmenden auf der als Einstieg in die historische Kartenanalyse konzipierten Tagung „Einen Plan haben … Karten als Quellen in der Geschichtswissenschaft“ am 4. November 2016 in den Räumen des Landesarchivs Berlin überzeugen (Link zum Programmflyer). Der Tagungsort war früher ein Zentrum der Rüstungsproduktion und dient heute als Aufbewahrungsort diverser Archivalien. Das Netzwerk „Hiko_21 der Historischen Kommission zu Berlin e. V.“ und das Landesarchiv Berlin hatten fortgeschrittene Studierende, Doktoranden und Interessierte zur methodisch-theoretischen Auseinandersetzung mit dem Medium der historischen Karten als Produkt politischen und bürokratischen Handelns eingeladen. Hintergrund der Tagung war der Ansatz, „dass die dargestellten Räume sozial geschaffen und mitnichten statisch waren bzw. sind.“ Dabei ging es auch um die „Macht der Karten“ (Abstraktion, Missbrauch, Manipulation). Die Teilnehmer wurden durch den Einführungsvortrag von Dr. Petra Svatek mit dem Anfang der 1990er Jahre entstandenen Begriff „spatial turn“ vertraut gemacht, der im Kern ein Umdenken in der geschichtswissenschaftlichen Analyse von Karten meint. Genauer gesagt: Weg von der Annahme einer bloß verkleinerten Abbildung vermeintlich natürlicher Tatsachen, hin zur Berücksichtigung des sozialen Konstruktionscharakters der dargestellten Räume. Die Kartengestaltung unterliegt politischen und soziokulturellen Einflüssen. Weil Karten immer konstruiert, produziert und gestaltet sind, die gezeigten Ausschnitte einer Wahl und einer spezifischen Fokussierung unterliegen, muss sich der Historiker stets fragen, welche Inhalte auf welche Weise zur Abbildung kommen („Topographical Turn“). Weiße Flecken bedeuten zuweilen nicht Unkenntnis, sondern liegen einer Verschleierungsabsicht zugrunde. Örtliche Gegebenheiten werden bewusst übertrieben, etwa um Festungen mächtiger und damit abschreckender erscheinen zu lassen. Der „Topological Turn“ rückt die Aufmerksamkeit des Historikers auf zwei Geometrien: Transformation (Frage nach dem Maßstab) und Projektion (Wonach, z. B. aus welchem Winkel, wurde projiziert?) des Darzustellenden. Als Konsequenz hat der Historiker die örtlichen Verhältnisse selbst zu erkunden. Der Vortrag endete dementsprechend mit dem Appell: „Gehen Sie raus, mit den Karten, begehen Sie die Orte!“
Die Teilnehmenden lernten durch Andreas Matschenz das Angebot der Kartensammlung des Landesarchivs (Amtliche-, Verlagskarten und Karten ohne erkennbare Provenienz, wie Baupläne; geographische oder verwaltungstechnische Karten; internationale, nationale, territoriale oder kommunale Karten etc.), nebst dazugehöriger digitaler Plattform „HistoMap“ kennen, welche ausgewählte historische Karten Berlins online georeferenziert zur Verfügung stellt. Winfried Bliß referierte zu Kategorien verschiedener Kartentypen und deren Quellenwert: Übersichtskarten als Erzeugnisse des Verlagswesens, die insbesondere ästhetische Bedürfnisse privater Besitzer befriedigten, Landesaufnahmen mit dem Zweck, dem Herrscher einen Überblick über seine Besitzungen zu verschaffen, Gemarkungskarten, die die Umgebung von Ortschaften darstellen, Separationskarten, welche Veränderungen der Flurstücke wiedergeben, Forstkarten mit Informationen zur Entwicklung des Baumbestandes, Gewässerkarten, die dem Historiker etwas über die einstige wirtschaftliche und infrastrukturelle Bedeutung von Gewässern verraten, Verkehrskarten, die einem ähnlichen Quellenwert zuzuordnen sind, militärische Karten, streng geheim gehalten, die die Standorte von Festungen wiedergeben und dem Generalstab oder dem Kriegsministerium Informationen zu den relevanten örtlichen Verhältnissen boten, und Karten zu Bauplänen, die zum Beispiel die Wohnverhältnisse von Verwaltungsangestellten der jeweiligen Zeit zeigen. Vor allem Landeshistoriker, Heimathistoriker und Ortschronisten, zunehmend aber auch Wirtschafts-, Sozial- und Kirchenhistoriker, profitieren von der Existenz derartiger Quellen. Fragen wurden auch aus den Disziplinen der Kommunikations-, Alltags- und Rechtsgeschichte gestellt. Dank des „spatial turn“, der die Geschichtswissenschaft für Fragen nach der räumlichen Komponente sensibilisierte, hat der Raum als Quellenkategorie enorm an Bedeutung gewonnen. Ergänzend führte Andreas Matschenz in den Kartenlesesaal, wo er verschiedene Aufbewahrungsformate und die Bedingungen der Aufbewahrung der Karten vor Ort erläuterte. Die Tagungsgäste durften sich anschließend im quellenkritischen Umgang mit eigens für den Workshop bereit gelegten Originalkarten aus dem Zeitraum von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, mit regionalem Schwerpunkt auf Berlin und Brandenburg, erproben.
Der Veranstaltung ist es gelungen, beim fachwissenschaftlich begeisterten, aber in der Arbeit mit historischen Karten weniger erprobten, Verfasser dieses Tagungsberichtes eine kritischere Herangehensweise an historische, aber auch aktuelle Karten zu fördern. Ich nahm die Tagung als sehr adressatenorientiert wahr: Es war möglich, ohne tiefergehende Kenntnisse sowohl den gut strukturierten und sprachlich sehr klaren Vorträgen als auch den engagierten Diskussionen der Teilnehmer zu folgen. Die Einbeziehung originaler Karten sorgte für eine hohe Anschaulichkeit. Die Tagung ermöglichte den Austausch mit Teilnehmern aus unterschiedlichen Fächern und sorgte für neue Anregungen für eigene vertiefende Studien.
Günter Lipfert
(Vereinsmitglied Geschichtswerkstatt Jena e. V.)