Meldungen des Jahres 2020

Meldung vom 21. Dezember 2020

Neue Ausgabe der „Gerbergasse 18“ mit Schwerpunkt Zukunft erschienen

Gerade in Krisenzeiten beschäftigen uns Fragen nach der Zukunft. Doch wie „wir“ in 50 oder 100 Jahren leben werden, das bestimmte schon immer die Träume, Wünsche und Hoffnungen der Menschen. Dabei neigen die Voraussagen, Prognosen und literarischen Entwürfe – gerade im 20. Jahrhundert mit seinen Katastrophen und Weltkriegen – in zwei entgegengesetzte Richtungen: die Utopie, als optimistisch-positiver Zukunftsentwurf, und die Dystopie, als pessimistisch-negatives Szenario, meist dargestellt als direkte Folge einer fortschritts-gläubigen und -hörigen Gesellschaft. Ein Blick in inzwischen historische Zukunftsbilder zeigt, dass konkrete Annahmen über „die Welt von morgen“ selten zutrafen, gerade wenn das Zukunftsdenken mit dem Glauben an neue Technologien aufgeladen wurde. Besonders die 1960er Jahren können rückblickend als „utopisches Jahrzehnt“ gelten, in dem Schulkinder sich auf ihren Zeichnungen im Jahr 2000 auf fernen Planeten spazieren gehen sahen und an dessen Ende die Mondlandung die Raketenträume ganzer Generationen einlöste. Planungseuphorie und neue Erkenntnisse in Medizin und Technik bildeten die Grundlage für die Vorstellung einer schier uneingeschränkten Ausnutzung von Bodenschätzen, Naturressourcen und Körpern. Wie eine zukünftige Welt aussehen könnte, ob in ihr Maschinen und Erfindungen zum Wohle aller dienen oder einseitig missbraucht werden, hat stets auch Künstlerinnen und Künstler begeistert und inspiriert: in Filmen, Romanen und Comics, aber auch in der Bildenden Kunst, der Architektur oder der Populärkultur.
Eine der berühmtesten Negativ-Utopien, der 1949 erschienene Roman „1984“, wird gerne synonym mit den Gefahren des Überwachungsstaates gesetzt. Wie die Zensur und die Verfolgung durch die Geheimpolizei dessen Verbreitung in der DDR verhindern sollte, wird in einer Rezension über ein Kompendium zu den „Zensurwerkstätten der DDR“ durch Baldur Haase vorgestellt, der 1959 wegen des Buches von George Orwell selbst verhaftet wurde. Einem anderen aufklärerischen Autor, Psychologen und Wahrheitssucher ist ein Porträt gewidmet, denn er wäre am 19. Dezember 2020 siebzig Jahre alt geworden: Jürgen Fuchs. Sein literarischer Widerstand gegen die Umstände endete durch den frühen Tod 1999. Ein anderer Beitrag berichtet über die Spät- und Folgeschäden unter den Wismut-Kumpeln. Viele erkranken erst Jahrzehnte später an Krebs, doch die eindeutige Anerkennung als Berufskrankheit wird oft weiterhin verwehrt.

Die neue Ausgabe der „Gerbergasse 18“ (Heft 97) ist infolge die aktuellen Einschränkungen (momentan) nur direkt über die Geschichtswerkstatt Jena erhältlich.

Eine Nachricht über unser Kontaktformular oder per E-Mail genügt: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Das Inhaltsverzeichnis und Leseproben von Heft 97 finden Sie hier.

Meldung vom 08. Oktober 2020

Eduard Rosenthal – Fragmente eines Lebens

Torsten Eckold, stellvetretender Vorsitzender der Geschichtswerkstatt Jena, stellt im Herbst seinen Dokumentarurfilm über Eduard Rosentahl (1853-1926) vor, der nach nach Motiven des Buches „Eduard Rosenthal – ein Charakterporträt“ von Dietmar Ebert gestaltet ist.

Der Film (58 Minuten) versucht durch die Kombination von Erinnerungen, Reden und Briefen mit heutigen Bildern von Orten, an denen Eduard Rosenthal gewirkt hat sowie mit historischen Fotos und Autographen ein fragmentarisches Lebensbild des bedeutenden Rechtsgelehrten zu zeichnen. Der „Mut zur Lücke“ erlaubt es, einzelne Begebenheiten seines langen Wirkens für die Stadt Jena und das Land Thüringen in eindrucksvollen Texten und Bildern zu erzählen, während andere Lebensstationen vollends ausgeblendet bleiben. Für die Zuschauer wird Rosenthals Einsatz für die Jenaer Lesehalle und Leihbibliothek, seine Tätigkeit als erster Vorsitzender des Jenaer Kunstvereins und als geschätzter Professor der Juristischen Fakultät und zweimaliger Prorektor der Jenaer Universität plastisch erlebbar. Im Film wird anhand von Dokumenten erzählt, welche bedeutende Rolle Eduard Rosenthal durch den von ihm vorgelegten Verfassungsentwurf, der mit wenigen Änderungen in den Folgejahren das erste demokratische Grundgesetz für Thüringen bildete, spielte.

Die Premiere fand am 2. Oktober im Theaterhaus Jena statt.

Weitere Präsentationen in Jena:
20. Oktober, 19.00 Uhr im Kino Schillerhof, anschließend Filmgespräch mit Torsten Eckold und Dietmar Ebert

Aufführungstermine im Kino am Markt:
22. Oktober, 18.00 Uhr
25. Oktober, 16.00 Uhr
16. November, 17.00 Uhr
28. November, 16.00 Uhr

Weitere Termine in ausgewählten Kinos in Thüringen sind geplant.

Zusätzliche Informationen zum Film unter: www.rosenthal-film.de

Die DVD ist erhältlich über die E-Mail Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! oder in der Jenaer Bücherstube

Meldung vom 02. Oktober 2020

Neue Ausgabe der „Gerbergasse 18“ mit Schwerpunkt 30 Jahre Deutsche Einheit erschienen

In einer krisenhaften Zeit scheint wenig Platz für das Feiern eines runden Jubiläums? So gerät auch das Ereignis „30 Jahre Deutsche Einheit“ – angesichts einer weltweiten Pandemie – in diesem Herbst in den Hintergrund. Auch deshalb rückt die neue Ausgabe der Zeitschrift „Gerbergasse 18“ bewusst das Jahr 1990 und Fragen zur Einheit in den Mittelpunkt. Unter anderem durch Einblicke zu den psychiatrischen Begutachtungen der Ende 1989 abgesetzten DDR-Staatsführung, einer Analyse zum kalkulierten Absterben einer eigenständigen Zeitungslandschaft im Osten nach einem kurzen „Pressefrühling“ Anfang 1990, einem Bericht zur Begründung des Rennsteiglaufes als gesamtdeutsches Sportereignis, mit persönlichen Erlebnissen am 3. Oktober 1990 in New York und der Stimmungslage in der östlichsten Stadt Thüringens, Gößnitz im Altenburger Land, anhand einer ethnografischen Studie.
Auch mehrere Rezensionen widmen sich dem besonderen Jahr 1990: der Frage nach dem „deutschen Volk“ und wer es definiert, der politischen Rhetorik und den Sprachbildern der Einheit, den Spuren eines verschwundenen Landes sowie dem Versuch, das gesamte Jahr in Form einer Remontage aus Bildern und Texten freizulegen.
Wie immer enthält auch die Rubrik Zeitgeschichte weitere spannende Beiträge, diesmal zu den Besonderheiten des Fotoarchivs der DDR-Staatssicherheit, dem jahrelangen Tauziehen um das Zentrale Parteiarchiv der SED und einem kuriosen Autounfall vor 40 Jahren an der deutsch-deutschen Grenze, als im August 1980 ein Wagen „kopfüber in den Osten“ stürzte. In der Rubrik Zeitgeschehen/Diskussion geht es aus unterschiedlichen Perspektiven um ein 1968 für Jena entstandenes Wandbild von Siegfried Winderlich im Plenarsaal des Rathauses sowie den gesellschaftlichen Umgang mit DDR-Auftragskunst heute. Mit drei persönlichen Nachrufen wird an den Bürgerrechtler Thomas Auerbach erinnert, der im Juni 2020 verstarb. Der 1947 geborene Auerbach wirkte in den 1970er Jahren in der Jungen Gemeinde Stadtmitte in Jena, engagierte sich nach seiner zwangsweisen Ausbürgerung 1977 von West-Berlin aus für politisch Verfolgte in der DDR und forschte viele Jahre als BStUMitarbeiter zur DDR-Geheimpolizei.  Daneben gab er wichtige Impulse zur Aufarbeitung der SED-Diktatur – gerade in Jena und für die Geschichtswerkstatt.

Die neue Ausgabe der „Gerbergasse 18“ (Heft 96) ist im Buchhandel, in ausgewählten Gedenkstätten/Museen oder direkt über die Geschichtswerkstatt Jena erhältlich.

Die Inhaltsübersicht und einige Leseproben zur aktuellen Ausgabe finden Sie hier.

Meldung vom 25. September 2020

Bewegte Zeit – Rückblicke auf das Jahr 1990. Eine Veranstaltungsreihe des Thüringer Archivs für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“, der Geschichtswerkstatt Jena und JenaKultur

Jena 1990. Fotografin: Karin Günther (Erlangen)

 

Mit einer gemeinsamen Veranstaltungsreihe möchten das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte "Matthias Domaschk", der Jenaer Stadthistoriker Rüdiger Stutz und die Geschichtswerkstatt Jena im Herbst 2020 die Bewegte Zeit vor 30 Jahren aus verschiedenen Perspektiven befragen. Die sechsteilige Reihe beginnt am 3. Oktober (Tag der Deutschen Einheit) mit einem Blick auf die produktiven Impusle der Städtepartnerschaft Erlangen-Jena und endet Mitte Dezember mit einer Film- und Projektvorstellung der neuen Zeitzeugendokumentation Generationen im UmBruch der Geschichtswerkstatt.

Noch unter Vor-Corona-Bedingungen geplant, kann die Reihe aus bekannten Gründen nur unter besonderen Bedingungen realisiert werden, das heißt "leider" mit weniger Publikum vor Ort, aber mit der Bemühung, dass Interessierte die Termine dennoch mitverfolgen können. Siehe dazu der allgemeine Hinweis unten.

Die Veranstaltungsreihe wird gefördert durch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

 

Veranstaltungstermine:
Samstag, 3. Oktober 2020 (Tag der Deutschen Einheit)
Präsentationen und Podiumsgespräch: Spurensuche zur frühen
Geschichte des Arbeitskreises Jenaer Judentum und zu einem
unterstützenden Impuls aus Erlangen um 1990
Ort: Diele im historischen Rathaus, Markt 1, 07743 Jena
Beginn: 14.00 Uhr / Gäste: Dr. Andreas Jakob (Stadtarchiv Erlangen)
und ZeitzeugInnen aus Jena / Moderation: Dr. Rüdiger Stutz

Außerhalb der Veranstaltungsreihe:

Samstag, 24. Oktober 2020
Zehnter Tag der Stadtgeschichte: Jena 1945. Endkriegsverbrechen –
Besetzung – Wiedereröffnung der Universität / Ort: Plenarsaal des
historischen Rathauses, Markt 1, 07743 Jena / Beginn: 10.00 Uhr (nur
nach vorheriger Einladung und Anmeldung; Livestream auf JenaTV)

Dienstag, 3. November 2020
Podiumsdiskussion: Bewegte Zeit – Rückblicke auf das Jahr 1990
Ort: Paradiescafé Jena, Vor dem Neutor 5, 07743 Jena
Beginn: 19.00 Uhr / Gäste: Torsten Cott, Thomas Eckardt, Martina
Haunstein / Moderation: Anne Jelena Schulte

Montag, 16. November 2020
Film und Gespräch: Solange Sie noch Arme haben,
Dokumentarfilm 2019, 92 min
Ort: Kino Schillerhof (Blauer Saal), Helmboldstraße 1, 07749 Jena
Beginn: 17.30 Uhr / Gäste: Luisa Bäde, Frank Karbstein
Bitte reservieren Sie Karten vorab online: www.schillerhof.org

Freitag, 20. November 2020
Podiumdiskussion: Perspektivwechsel – Deutsch-deutsche
Migration ab 1989/90
Ort: Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek, Vortragsraum,
Bibliotheksplatz 2, 07743 Jena / Beginn: 19.00 Uhr
Gäste: Dr. Martin Bindmann, Dr. Caroline Buchartowski,
Manuela Heinemann-Langer / Moderation: Prof. Dr. Silke Satjukow

Dienstag, 1. Dezember 2020
Podiumsdiskussion: Plötzlich Partner. Die Städtepartnerschaft Erlangen-
Jena ab 1990 / Ort: Paradiescafé Jena, Vor dem Neutor 5, 07743
Jena / Beginn: 19.00 Uhr / Gäste: Helmut Aichele, Karin Günther,
Heide Mattischeck, Peter Steger / Moderation: Daniel Börner

Mittwoch 16. Dezember 2020
Projekt- und Filmpräsentation: Generationen im UmBruch. Filmische
Zeitzeugendokumentation der Geschichtswerkstatt Jena
Ort: Kino Schillerhof (Blauer Saal), Helmboldstraße 1, 07749 Jena
Beginn: 18.00 Uhr
Bitte reservieren Sie Karten vorab online: www.schillerhof.org

 

Das Faltblatt zur Veranstaltungsreihe finden Sie hier.

Hinweis:

Der Eintritt ist zu allen Veranstaltungen frei. Bitte beachten Sie jedoch die vor Ort geltenden Hygienevorschriften und bringen Sie Ihren eigenen Mund-Nasen-Schutz mit. Aufgrund der
Corona-Pandemie ist eine Anmeldung zu den Veranstaltungen erforderlich, entweder über die E-Mail-Adresse: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! oder per Telefon: 03641-539304.

Für die beiden Veranstaltungen im Kino Schillerhof gilt das dortige Hygienekonzept:
www.schillerhof.org/de/service/hygienekonzept
Es ist geplant, die Podiumsgespräche live im Internet zu übertragen. Unter www.facebook.com/ThuerAZ können Sie die Veranstaltungen zu den angegebenen Zeiten mitverfolgen. Im Nachgang der Veranstaltungen sollen die Videoaufzeichnungen auf der Internetseite des ThürAZ zur Verfügung gestellt werden (www.thueraz.de).

Jena 1990. Fotografin: Karin Günther (Erlangen)

Meldung vom 08. Juli 2020

Neue Ausgabe der „Gerbergasse 18“ mit Titelthema „Liebe und Sexualität“ erschienen

Ohne sie wären wir alle nicht da: die menschliche Sexualität. Dennoch ist das historische Befragen des Liebes- und Sexuallebens – in Ost und West – eher ein pikantes Randthema geblieben: oft ausgeblendet, gar tabuisiert oder auf knappe Psychogramme verkürzt. Neben Aufklärung gibt es viel Verklärung, weil hartnäckige Mythen und Klischees fortwirken – natürlich, wer könnte sich davon freisprechen?
Der Soziologe und Jugendforscher Kurt Starke, gerne als „Sex-Papst“ der DDR bezeichnet, hatte vor 1990 eine Studie mit einem westdeutschen Kollegen „Zum Sexualverhalten von Studenten aus BRD und DDR“ durchgeführt. Die „Bild“-Zeitung verkürzte die Ergebnisse wenige Monate vor der Wiedervereinigung mit großen Buchstaben zu: „DDR-Frauen kriegen öfter einen Orgasmus“. Solche und ähnliche Boulevard-Meldungen führen ein Eigenleben – eine Mischung aus wirkmächtigen und langlebigen Selbstund Fremdbildern über den „wilden“ Osten kursieren: ungezwungene Nacktheit im FKK-Paradies, ein natürlicherer Umgang mit dem eigenen Körper, die sexuell freizügige Ostfrau bei gleichzeitiger Abwesenheit von bürgerlichkirchlicher Moral und kapitalistischem Leistungsdruck.
Der Blick auf die Bereiche Liebe und Sexualität schließt immer auch Gesellschaftsgeschichte ein. Wie wurde und wird mit Minderheiten umgegangen, die andere Varianten der normierten Sexualität leb(t)en? Im vorliegenden Heft wird das eindrücklich am Beispiel eines schwulen NVA-Offiziers, lesbischen Frauen auf dem Land und dem Rechtsanwalt Hans Holbein aus Apolda gezeigt, der für die Freiheit des dritten Geschlechts eintrat und dessen Stiftung für sexuelle Aufklärung und Wissensvermittlung seit 100 Jahren einer Verwirklichung harrt. So ist das Reden über Liebe und Sex auch nach 30 Jahren gemeinsamer Ost-West-Verbindung geprägt von vielen Gemeinsamkeiten, aber auch bestimmten Unterschieden.

Weitere Beiträge im Heft widmen sich unter anderem der Mail Art in der DDR als Kunst der Korrespondenz, den Spätfolgen psychologischer Folter durch die Zersetzungsmaßnahmen der DDR-Geheimpolizei sowie der Frage, weshalb alte Kader immer noch großen Einfluss auf die Geschichtsschreibung der DDR-Seefahrt haben. Eine Rezension bespricht den Erinnerungsband „Zusammenbruch“ des einstigen FDJ-Chefs Eberhard Aurich.

Die neue Ausgabe der „Gerbergasse 18“ (Heft 95) ist im Buchhandel, in ausgewählten Gedenkstätten/Museen oder direkt über die Geschichtswerkstatt Jena erhältlich.

Die Inhaltsübersicht und einige Leseproben zur aktuellen Ausgabe finden Sie hier.

Meldung vom 06. Juli 2020

Geschichtsklitterung aktiv entgegentreten – Ein Zeitzeugenkommentar zum Aufmarsch der (westdeutschen) FDJ in Jena

Mit einer vielfältigen und parteiübergreifenden Demonstration sprachen sich am 4. Juli 2020 viele Jenaerinnen und Jenaer gegen jegliche Versuche der Geschichtsfälschung aus. Mit einer Kundgebung reagierte die örtliche Zivilgesellschaft damit auf einen von der „FDJ“, einer Gruppe von angereisten Demonstranten (darunter viele Kinder und Jugendliche), inszenierten Aufmarsch unter dem Motto „Revolution und Sozialismus: 30 Jahre sind genug!“ in der Jenaer Innenstadt.

„FDJ-Aufmarsch“ am 4. Juli 2020 in Jena. Foto: Roland Börner

 
Wir dokumentieren im Folgenden den Redebeitrag unseres Vereinsmitglieds Baldur Haase, der am 4. Juli auf dem Jenaer Holzmarkt sprach:
Guten Tag,
ich heiße Baldur Haase, bin 81 Jahre alt, lebe seit 56 Jahren in Jena und war in der DDR aus politischen Gründen – genauer gesagt wegen sogenannter „Staatsgefährdender Hetze“ – 27 Monate inhaftiert. Seit nunmehr 30 Jahren beschäftige ich mich mit der Thematik politische Verfolgung und Haft in der DDR, indem ich publiziere und als Zeitzeuge Vorträge halte. Dabei bemühe ich mich, sachlich und objektiv zu sein. Ich empfand und empfinde keinen Hass gegenüber den Machthabern der SED-Diktatur oder gegenüber den Mitarbeitern und Beschäftigten der politischen Justiz und der Stasi, dem Ministerium der
Staatssicherheit (MfS), das in jedem DDR-Bezirk ein eigenes Untersuchungsgefängnis betrieb. Zugegeben: Mitunter kommt etwas Groll in mir hoch, aber das ist kaum der Rede wert.
Die Anzahl der auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und späteren DDR aus politischen Gründen inhaftierten Menschen wird auf weit mehr als 200 000 Personen geschätzt. In dieser erschreckend hohen Zahl wäre ich – auch angesichts des verhältnismäßig geringen Strafmaßes von lediglich drei Jahren und drei Monaten Zuchthaus – nach 1990 ein unbedeutendes, kleines Licht geblieben. Dass es nicht so kam, sondern, dass sich seither die Öffentlichkeit und Medien – bis hin zum Fernsehen – für mich und das was ich erlebte, interessieren, hat einen besonderen Grund. Während meines Prozesses im März 1959, vor dem ersten Strafsenat des Bezirksgerichtes Gera, saß auf der Anklagebank – zumindest symbolisch – auch ein hochaufgeschossener, hagerer Mann, mit einem schmalen Oberlippenbärtchen neben mir. Er bekam ebenso sein Fett weg wie ich. Durch den Staatsanwalt und den Richter musste er
ebensolche lautstarken Beschimpfungen und Beleidigungen über sich ergehen lassen wie ich. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt bereits neun Jahre tot. Aber selbst wenn er noch am Leben gewesen wäre, hätte man seiner nicht habhaft werden können, denn er lebte im „kapitalistischen Westen“ – in Großbritannien. Auf dem Richtertisch lag ein Buch, das er verfasst hatte und das nach Einschätzung der Staatssicherheit, der Staatsanwaltschaft und des Gerichts eine „antisozialistische Hetzschrift“ darstellte. Ein Brieffreund aus der Bundesrepublik hatte mir diese im April 1958 in einem der begehrten Westpakete mitgeschickt. Es war ein Buch, in Wirklichkeit ein dystopischer Roman, der mir – ebenso wie der Autor – bis dahin völlig unbekannt war. Ich bin mir sicher, Sie haben es inzwischen alle erraten, wen ich meine: George Orwell und sein Buch „1984“.
Bei meiner Verhaftung, am 13. Januar 1959, hatte es die Stasi bei der Haussuchung entdeckt und als Beweismittel beschlagnahmt. Ich hätte niemals geglaubt, dass ein Roman und dessen Autor das Leben eines Menschen über Jahrzehnte – bis zum Lebensende – völlig umkrempeln könnten. Und doch gibt es so etwas. George Orwell ist für mich so etwas wie ein imaginärer Begleiter, Ratgeber, ja sogar Freund geworden. Nach 1990 habe ich mir so gut wie alle seiner publizistischen und literarischen Arbeiten besorgt. Ein Leben ohne ihn kann ich mir kaum noch vorstellen. Auch jetzt, in diesem Augenblick, scheint er neben mir zu stehen und mir zunicken zu wollen, wenn ich Absicht habe, Ihnen ein paar Zitate aus seinem Buch „1984“ vorzulesen.
Es sind Zitate, die die Behauptungen, der Buchinhalt sei „antisozialistische Hetze“, ad absurdum führen. Auch sind es Zitate, die eindeutig das belegen und beweisen, was ich in der DDR sah, erfuhr und erlebte.

1. Zitat: Was immer die Partei für Wahrheit hält, ist Wahrheit. Es ist unmöglich, die Wahrheit anders zu sehen, als mit den Augen der Partei.
2. Zitat: Das Familienleben war in Wirklichkeit zu einer Erweiterung der Gedankenpolizei geworden, zu einem Mittel, um jedermann Tag und Nacht von intim vertrauten Angebern bespitzeln zu lassen.
Mein damaliger Schwager war ein „Geheimer Informator“ (GI) des MfS mit dem Decknamen „Otto Ölmann“. Am 20. Juni 1958, einen Tag, nachdem wir in der Familie meinen 19. Geburtstag gefeiert hatten, denunzierte er mich bei seinem Führungsoffizier. Er hatte das Buch „1984“ in meinen Unterlagen entdeckt und heimlich darin gelesen.
3. Zitat: Gedankenverbrechen nannten sie es. Gedankenverbrechen konnte man auf Dauer nicht geheim halten.
Der größte Teil der über 200 000 politischen Häftlinge der SBZ/DDR hatte lediglich „Gedankenverbrechen“ begangen, sonst nichts.
4. Zitat: Es war ein offenes Geheimnis, dass üblicherweise alle Briefe vor der Zustellung geöffnet wurden.
Bei der Einsicht in meine Stasiakten im Jahr 1993 erfuhr ich, dass das MfS erstmals im August 1957 einen Brief von mir an einen westdeutschen Verlag in Konstanz am Bodensee kontrolliert hatte. Eine Postkontrolle durch die Linie M des MfS wurde im Mai 1958 angeordnet. Da ich noch im Haushalt meiner Eltern lebte, wurde auch ihre Post kontrolliert.
5. Zitat: Die Gedankenpolizei hatte ihn [gemeint ist der Protagonist Winston Smith] sieben Jahre lang wie einen Käfer unter der Lupe beobachtet.
Bei diesem Zitat muss ich unwillkürlich lächeln, Mr. Orwell. Da ist ja Winston, der Regimekritiker des Großen Bruders, von der Gedankenpolizei Ozeaniens weitaus besser behandelt worden als ich. Mich hat die Gedankenpolizei unter Ulbricht und Honecker ganze 32 Jahre wie einen Käfer unter der Lupe beobachtet. Die letzte aktenkundige Postkontrolle erfolgte zu einem Briefwechsel mit einem Brieffreund im Alten Land bei Hamburg. Der Briefumschlag trägt den Poststempel vom 7. Juli 1989.
 
Orwells Roman „1984“ ist für mich so etwas wie ein Leitfaden geworden. Ich meine, dass er nach wie vor als eine Mahnung an die Welt angesehen und beachtet werden sollte. Als eine Warnung vor jeglicher Art von Totalitarismus. Als eine Warnung vor alten und neuen Diktaturen, ganz gleich in welcher Farbe. Keine Art von Diktatur sollte jemals wieder Ansehen und den Status einer Salonfähigkeit erlangen können. Ich möchte meine Ansprache schließen mit einem Ausspruch des Liedermachers Wolf Biermann, der einmal sagte: „Uns gebrannten Kindern jedenfalls ist die unvollkommene, ja sogar eine kränkelnde Demokratie lieber als jede vollkommene und kerngesunde Diktatur.“ Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Danke, Wolf Biermann!
Thank you very much, Mr. Orwell!

 

Baldur Haase, Jena

Meldung vom 17. April 2020

Neue Ausgabe der Zeitschrift „Gerbergasse 18“ mit Schwerpunkt Politische Haft erschienen

Politische Haft ist kein historisches Phänomen. Das zeigt schon der Blick auf die wachsende Zahl an Gefängnisliteratur, die weltweit entsteht, vor allem in autoritären Staaten. Waren im 20. Jahrhundert „staatsgefährdende“ Schriftsteller und Publizisten betroffen, werden im 21. Jahrhundert zunehmend Autoren, Aktivisten und Künstler angegriffen, die online aktiv sind. So wie der saudische Blogger Raif Badawi, der seit über acht Jahren in Haft ist und vom dem es seit Januar kein Lebenszeichen mehr gibt. Er hatte sein Heimatland für mangelnde Religions- und Meinungsfreiheit kritisiert. Das Urteil gegen ihn gab einem Buch mit Badawis Texten den Titel: 10 Jahre Gefängnis und 1000 Peitschenhiebe. Sein Fall und der Protest von Menschenrechtsgruppen gegen die fortgesetzte Inhaftierung wird im neuen Heft vorgestellt.

Auch in der DDR gab es sie offiziell nicht, die „Politischen“. Sie galten als kriminell, teilten mit allen anderen Häftlingen Zellen und Gefängnisse. Angeklagt und verurteilt wurden sie aber mit politischen Paragrafen, ausgelegt und zurechtgebogen als „Verbrechen gegen die Deutsche Demokratische Republik“. Darunter zählten etwa „Ungesetzliche Sammlung von Nachrichten“, „Staatsfeindliche Verbindungen“ oder „Ungesetzlicher Grenzübertritt“. Wie viele Opfer die politische Justiz in der SBZ und der DDR fabriziert hat, ist bis heute nicht bekannt. Schätzungen reichen bis zu 250000 Personen im Zeitraum zwischen 1949 und 1989. Momentan recherchiert ein Teilprojekt des Forschungsverbundes „Landschaften der Verfolgung“, um die konkrete Zahl in einer Datenbank zu erfassen.

Weitere Beiträge im Heft beschäftigen sich mit unterschiedlichen Themen und Fragestellungen. Etwa mit der Geschichte des Jugendwerkhofs Königstein nahe Dresden, dem Ende der Stasi-Kreisdienststelle in Jena im Dezember 1989 oder einem Rückblick des ehemaligen Erlanger Oberbürgermeisters Dietmar Hahlweg auf die Ereignisse 1989/90. Ein persönlicher Bericht des Fotografen Michael Kerstgens über seine Bildreportage in Mühlhausen im Frühjahr 1990 diskutiert die spannende Frage, wie wir uns anhand von Fotografien erinnern können und wollen.

Die neue Ausgabe der „Gerbergasse 18“ (Heft 94) ist zeitnah im lokalen Buchhandel oder direkt über die Geschichtswerkstatt Jena erhältlich. Durch die aktuellen Umstände und Einschränkungen (Pandemie-Schutzmaßnahmen) wird die neue Ausgabe bei unseren externen Verkaufsstellen (Museen/Gedenkstätten) voraussichtlich erst im Mai verfügbar sein.

Inhaltsverzeichnis und Leseproben von Heft 94 finden Sie hier.

Meldung vom 31. Januar 2020

„Das Betrugspotenzial ist immer noch gewaltig" – Der Doping-Aufklärer Werner Franke wird 80 Jahre alt

Der weltweit renommierte Molekularbiologe und Anti-Doping-Experte Werner Franke aus Heidelberg begeht am 31. Januar 2020 seinen 80. Geburtstag. Noch immer ist er nahezu täglich im Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in seinem Labor bei der Arbeit anzutreffen.

Seit mehr als fünf Jahrzehnten widmete sich Franke zusammen mit seiner Frau Brigitte Berendonk der Aufklärung von Dopingmachenschaften im internationalen Sport. Im Jahr 1991 veröffentlichten beide das Standardwerk „Doping-Dokumente. Von der Forschung zum Betrug“, worin sie das systematische Staatsdoping in der DDR, aber auch die Dopingstrukturen in der Bundesrepublik, aufdeckten. In der Militärmedizinischen Akademie der DDR in Bad Saarow gelang es dem Ehepaar Franke-Berendonk nach dem Mauerfall, wichtige streng geheime Dopingakten vor der Vernichtung zu bewahren und international zugänglich zu machen. Besonders die Vergabe von männlichen Sexualhormonen an Mädchen und junge Frauen kritisiert Franke als schweres Verbrechen". Auch die Mitverantwortung des VEB Jenapharm  sowie beteiligter Wissenschaftler und Mediziner am DDR-Dopingsystem, hat er offengelegt.

Franke war es auch, der 1991 Strafanzeige gegen Verantwortliche des DDR-Sportsystems stellte, woraufhin viele Täter vor Gericht verurteilt wurden. Aber er brachte auch mehrere West-Doper vor Gericht. Ein Beispiel ist der einstige West-Bundestrainer in der Leichtathletik, Heinz-Jochen Spilker, der 1994 wegen des Inverkehrbringens von Anabolika bei seinen Sprinterinnen in Hamm/Westfalen verurteilt wurde. Der studierte Jurist Spilker wagte nach dem Mauerfall einen beruflichen Neuanfang in Erfurt, wo er mit Ansgard Schmidt, dem Vater des derzeit in Untersuchungshaft sitzenden mutmaßlichen Dopingarztes Mark Schmidt, zusammen eine Anwaltskanzlei führte. Deutsche Doping-Wiedervereinigung", nennt Franke die Erfurter Doping-Zentrale". Franke ist zudem als Mann der klaren Worte bekannt: Das im Dezember 2015 inkraftgetretene Anti-Doping-Gesetz hält Franke für „eine lügenhafte Verarschung des deutschen Volkes“. Er hatte lange zuvor darauf hingewiesen, dass in Deutschland das Verschwiegenheitsrecht – auch von Doping-Medizinern generell in Anspruch genommen – ein Unding sei. Selbst das für den Sport zuständige Bundesinnenministerium habe seit den 1970er Jahren bekannte Doping-Mediziner geschützt. Franke hatte übrigens schon vor Jahren – im Zusammenhang mit Doping im deutschen Radteam Gerolsteiner – Strafanzeige gegen den Erfurter Sportarzt Mark Schmidt erstattet.

Insbesondere hat Franke bereits vor Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass es schwere Erkrankungen und Todesfälle bei Sportlern geben muss, die genetisch prädisponiert (veranlagt) sind, wobei der überwiegende Teil solcher Gene in Frankes Labor entdeckt und diagnostizierbar gemacht worden sind. So hatte der hochgedopte DDR-Kugelstosser Gerd Jacobs aus Berlin eine Mutation, die bekannt dafür ist, dass sie zu Herzschäden führen kann. Was bei Jacobs zu einer Herztransplantation führte. Er verstarb im Dezember 2015.

Franke wies übrigens immer wieder auf den geringen Wissensstand der Sportmediziner hin, auch von Doping-Professoren wie Armin Klümper und Joseph Keul der Universität Freiburg. Franke hatte auch das Doping beim einst prominentesten deutschen Radrennstall Team Telekom von Jan Ullrich und Kollegen vor Gericht nachgewiesen.

Zu den mit Anabolika-Kuren zustande gekommenen Leichtathletik-Rekorden von DDR-Sportler*innen wie Marlies Göhr, Marita Koch, Heike Drechsler, Ulf Timmermann und weiteren sagt Franke: „Das ist alles eine verbrecherische Farce und wahrlich keine Orientierung für die heutige Leichtathletik-Jugend.“ Jüngst kritisierte er den Doping-Opfer-Hilfe-Verein, den er einst mitbegründete, weil dieser seiner Ansicht nach unwissenschaftlich arbeiten würde.

Brigitte Franke-Berendonk und Werner Franke im Oktober 2015 in Jena. Werner Franke hielt im Jenaer Planetarium einen Vortrag zum Thema Doping in Ost und West.
Fotograf: Thomas Purschke
 
Am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg will Franke nun ein öffentliches Doping-Archiv einrichten mit vielen Prozessakten und Dokumenten aus den vergangenen Jahrzehnten. Sein Wirken bilanziert er so: Als Wissenschaftler ist es meine Pflicht, auf Missstände hinzuweisen." Zum Doping in der Gegenwart erklärt er: Heute wird aufgrund der etwas verbesserten Kontrollen zwar weniger und teils versteckter gedopt. Aber das Betrugspotenzial ist immer noch gewaltig." An seinen Ruhestand denkt er jedenfalls noch lange nicht. Auch ein Buch über die betrügerischen Pharma-Manipulationen im Weltsport habe er in Planung. Zu dem wegen etlicher Dopingfälle heftig in der Kritik stehenden Gewichtheber-Weltverband hat er eine klare Meinung: Wenn das Gewichtheben so verseucht ist, dann darf es bei den Olympischen Sommerspielen in Tokio eben keine Wettkämpfe geben."
 
Thomas Purschke
Journalist, Steinbach-Hallenberg
 
 
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