Meldungen des Jahres 2020

Meldung vom 06. Juli 2020

Geschichtsklitterung aktiv entgegentreten – Ein Zeitzeugenkommentar zum Aufmarsch der (westdeutschen) FDJ in Jena

Mit einer vielfältigen und parteiübergreifenden Demonstration sprachen sich am 4. Juli 2020 viele Jenaerinnen und Jenaer gegen jegliche Versuche der Geschichtsfälschung aus. Mit einer Kundgebung reagierte die örtliche Zivilgesellschaft damit auf einen von der „FDJ“, einer Gruppe von angereisten Demonstranten (darunter viele Kinder und Jugendliche), inszenierten Aufmarsch unter dem Motto „Revolution und Sozialismus: 30 Jahre sind genug!“ in der Jenaer Innenstadt.

„FDJ-Aufmarsch“ am 4. Juli 2020 in Jena. Foto: Roland Börner

 
Wir dokumentieren im Folgenden den Redebeitrag unseres Vereinsmitglieds Baldur Haase, der am 4. Juli auf dem Jenaer Holzmarkt sprach:
Guten Tag,
ich heiße Baldur Haase, bin 81 Jahre alt, lebe seit 56 Jahren in Jena und war in der DDR aus politischen Gründen – genauer gesagt wegen sogenannter „Staatsgefährdender Hetze“ – 27 Monate inhaftiert. Seit nunmehr 30 Jahren beschäftige ich mich mit der Thematik politische Verfolgung und Haft in der DDR, indem ich publiziere und als Zeitzeuge Vorträge halte. Dabei bemühe ich mich, sachlich und objektiv zu sein. Ich empfand und empfinde keinen Hass gegenüber den Machthabern der SED-Diktatur oder gegenüber den Mitarbeitern und Beschäftigten der politischen Justiz und der Stasi, dem Ministerium der
Staatssicherheit (MfS), das in jedem DDR-Bezirk ein eigenes Untersuchungsgefängnis betrieb. Zugegeben: Mitunter kommt etwas Groll in mir hoch, aber das ist kaum der Rede wert.
Die Anzahl der auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und späteren DDR aus politischen Gründen inhaftierten Menschen wird auf weit mehr als 200 000 Personen geschätzt. In dieser erschreckend hohen Zahl wäre ich – auch angesichts des verhältnismäßig geringen Strafmaßes von lediglich drei Jahren und drei Monaten Zuchthaus – nach 1990 ein unbedeutendes, kleines Licht geblieben. Dass es nicht so kam, sondern, dass sich seither die Öffentlichkeit und Medien – bis hin zum Fernsehen – für mich und das was ich erlebte, interessieren, hat einen besonderen Grund. Während meines Prozesses im März 1959, vor dem ersten Strafsenat des Bezirksgerichtes Gera, saß auf der Anklagebank – zumindest symbolisch – auch ein hochaufgeschossener, hagerer Mann, mit einem schmalen Oberlippenbärtchen neben mir. Er bekam ebenso sein Fett weg wie ich. Durch den Staatsanwalt und den Richter musste er
ebensolche lautstarken Beschimpfungen und Beleidigungen über sich ergehen lassen wie ich. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt bereits neun Jahre tot. Aber selbst wenn er noch am Leben gewesen wäre, hätte man seiner nicht habhaft werden können, denn er lebte im „kapitalistischen Westen“ – in Großbritannien. Auf dem Richtertisch lag ein Buch, das er verfasst hatte und das nach Einschätzung der Staatssicherheit, der Staatsanwaltschaft und des Gerichts eine „antisozialistische Hetzschrift“ darstellte. Ein Brieffreund aus der Bundesrepublik hatte mir diese im April 1958 in einem der begehrten Westpakete mitgeschickt. Es war ein Buch, in Wirklichkeit ein dystopischer Roman, der mir – ebenso wie der Autor – bis dahin völlig unbekannt war. Ich bin mir sicher, Sie haben es inzwischen alle erraten, wen ich meine: George Orwell und sein Buch „1984“.
Bei meiner Verhaftung, am 13. Januar 1959, hatte es die Stasi bei der Haussuchung entdeckt und als Beweismittel beschlagnahmt. Ich hätte niemals geglaubt, dass ein Roman und dessen Autor das Leben eines Menschen über Jahrzehnte – bis zum Lebensende – völlig umkrempeln könnten. Und doch gibt es so etwas. George Orwell ist für mich so etwas wie ein imaginärer Begleiter, Ratgeber, ja sogar Freund geworden. Nach 1990 habe ich mir so gut wie alle seiner publizistischen und literarischen Arbeiten besorgt. Ein Leben ohne ihn kann ich mir kaum noch vorstellen. Auch jetzt, in diesem Augenblick, scheint er neben mir zu stehen und mir zunicken zu wollen, wenn ich Absicht habe, Ihnen ein paar Zitate aus seinem Buch „1984“ vorzulesen.
Es sind Zitate, die die Behauptungen, der Buchinhalt sei „antisozialistische Hetze“, ad absurdum führen. Auch sind es Zitate, die eindeutig das belegen und beweisen, was ich in der DDR sah, erfuhr und erlebte.

1. Zitat: Was immer die Partei für Wahrheit hält, ist Wahrheit. Es ist unmöglich, die Wahrheit anders zu sehen, als mit den Augen der Partei.
2. Zitat: Das Familienleben war in Wirklichkeit zu einer Erweiterung der Gedankenpolizei geworden, zu einem Mittel, um jedermann Tag und Nacht von intim vertrauten Angebern bespitzeln zu lassen.
Mein damaliger Schwager war ein „Geheimer Informator“ (GI) des MfS mit dem Decknamen „Otto Ölmann“. Am 20. Juni 1958, einen Tag, nachdem wir in der Familie meinen 19. Geburtstag gefeiert hatten, denunzierte er mich bei seinem Führungsoffizier. Er hatte das Buch „1984“ in meinen Unterlagen entdeckt und heimlich darin gelesen.
3. Zitat: Gedankenverbrechen nannten sie es. Gedankenverbrechen konnte man auf Dauer nicht geheim halten.
Der größte Teil der über 200 000 politischen Häftlinge der SBZ/DDR hatte lediglich „Gedankenverbrechen“ begangen, sonst nichts.
4. Zitat: Es war ein offenes Geheimnis, dass üblicherweise alle Briefe vor der Zustellung geöffnet wurden.
Bei der Einsicht in meine Stasiakten im Jahr 1993 erfuhr ich, dass das MfS erstmals im August 1957 einen Brief von mir an einen westdeutschen Verlag in Konstanz am Bodensee kontrolliert hatte. Eine Postkontrolle durch die Linie M des MfS wurde im Mai 1958 angeordnet. Da ich noch im Haushalt meiner Eltern lebte, wurde auch ihre Post kontrolliert.
5. Zitat: Die Gedankenpolizei hatte ihn [gemeint ist der Protagonist Winston Smith] sieben Jahre lang wie einen Käfer unter der Lupe beobachtet.
Bei diesem Zitat muss ich unwillkürlich lächeln, Mr. Orwell. Da ist ja Winston, der Regimekritiker des Großen Bruders, von der Gedankenpolizei Ozeaniens weitaus besser behandelt worden als ich. Mich hat die Gedankenpolizei unter Ulbricht und Honecker ganze 32 Jahre wie einen Käfer unter der Lupe beobachtet. Die letzte aktenkundige Postkontrolle erfolgte zu einem Briefwechsel mit einem Brieffreund im Alten Land bei Hamburg. Der Briefumschlag trägt den Poststempel vom 7. Juli 1989.
 
Orwells Roman „1984“ ist für mich so etwas wie ein Leitfaden geworden. Ich meine, dass er nach wie vor als eine Mahnung an die Welt angesehen und beachtet werden sollte. Als eine Warnung vor jeglicher Art von Totalitarismus. Als eine Warnung vor alten und neuen Diktaturen, ganz gleich in welcher Farbe. Keine Art von Diktatur sollte jemals wieder Ansehen und den Status einer Salonfähigkeit erlangen können. Ich möchte meine Ansprache schließen mit einem Ausspruch des Liedermachers Wolf Biermann, der einmal sagte: „Uns gebrannten Kindern jedenfalls ist die unvollkommene, ja sogar eine kränkelnde Demokratie lieber als jede vollkommene und kerngesunde Diktatur.“ Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Danke, Wolf Biermann!
Thank you very much, Mr. Orwell!

 

Baldur Haase, Jena

 
 
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