Meldungen des Jahres 2024

Meldung vom 15. November 2024

Neue Ausgabe der „Gerbergasse 18“ zum Schwerpunkt DIKTATURFOLGEN erschienen

Im Prozess der Aufarbeitung der Dikatur(en) hat sich schmerzhaft gezeigt, dass sich Nachwirkungen, Konsequenzen und Spätfolgen nicht mit einer Datumsgrenze oder dem Erreichen von Jahrestagen erledigt haben. Aktuell wird ein „Sechstes Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR“ in den Deutschen Bundestag eingebracht. Mit gesetzlichen Veränderungen soll die Situation der – noch lebenden – SED-Opfer verbessert werden, dazu gehört die Einrichtung eines Härtefallfonds, die Dynamisierung der Zuwendung für Haftopfer, die Anpassung der Definition der Opfergruppen an die Forschungslage sowie die Erleichterung der Beantragung und Bewilligung von Hilfen und Leistungen. Durch das vorzeitige Ende der Ampel- Regierung im November 2024 wird eine Verabschiedung wiederum hinausgezögert.
Obwohl Rehabilitierungen, Entschädigungen und Restitutionen fortlaufend stattfinden, lassen sich mit der Zahlung symbolischer Beträge erlittenes Leid nicht lindern oder versperrte Lebens- und Karrierewege nachträglich ausgleichen. Wenn auch nicht täglich sichtbar, bleiben die Diktaturfolgen präsent und nicht auf die unmittelbar Betroffenen beschränkt, denn wir alle tragen und zahlen diese Kosten mit Zins und Zinseszins. Dazu zählen unter anderem die finanziellen Aufwendungen, etwa für die enormen Entsorgungs- und Sanierungskosten.
Zu fragen wäre also nicht allein, was „uns“ die Einheit gekostet hat, sondern welche Kosten die Teilung (bis heute) verursacht. Folgenreich war vor allem der Verlust an Menschen, die das Land vor und nach der Einmauerung verließen. Von diesem Aderlass, allein drei Millionen bis 1961, hat sich der Osten nie erholt. Nach 1990 verloren die „neuen“ Bundesländer nochmals über eine Million Menschen durch Fortzug. Diese und andere Diktaturfolgen werden im neuen Heft verhandelt und dargestellt. Darunter die Markierung des Haftortes Hohenleuben als DENKOrt, die Langzeitfolgen für das ehemalige Wismut-Bergbaugebiet, die fehlende Rehabilitierung von Zersetzungsopfern der SED-Diktatur, die Kulturgutentziehungen in SBZ und DDR sowie Traumatisierungen, unter denen viele von politischem
Unrecht Betroffene und ihre Angehörigen bis heute leiden.
In den Rubriken Zeitgeschichte und Zeitgeschehen warten weitere spannende Beiträge, etwa zu Erfurter Fußballfans im Visier der Staatssicherheit und der Erinnerung an sowjetische Verhaftungen und Speziallager seit 1989/90. Rezensionen zu Neuerscheinungen über ostdeutsche Erotikshops, der „Riesaer Petiton“ von 1976 und der polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarność ergänzen das Heft.
Die aktuelle Ausgabe der „Gerbergasse 18“ (Heft 112) ist im lokalen Buchhandel oder direkt über die Geschichtswerkstatt Jena erhältlich.

Eine Inhaltsübersicht und Leseproben gibt es HIER.

Meldung vom 25. Oktober 2024

Filmpremiere „Verlorene Zeit – Gegen das Schweigen“ am 30. Oktober 2024 um 18 Uhr im Schillerhof-Kino Jena

Im Film „Verlorene Zeit – Gegen das Schweigen“ gehen vier Menschen auf eine Spurensuche in ihre Vergangenheit. Im Durchgangsheim Schmiedefeld, im Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf und im Frauengefängnis Hohenleuben waren sie der Willkür des SED-Regimes ausgeliefert, weil sie als „schwer erziehbar“ galten oder in den Westen wollten. Die Zeitzeugen sprechen über Gewalterfahrungen, Isolation und Zwangsarbeit in Einrichtungen der repressiven DDR-Heimerziehung und im Strafvollzug sowie über die Gründe ihrer Einweisung oder Verhaftung. Jugendliche, die sich nicht ins Normsystem der DDR einfügen wollten oder konnten, sollten mit Zwangsmaßnahmen zu „sozialistischen Persönlichkeiten“ erzogen werden. Auch in Thüringen gab es solche Einrichtungen.
Zum Filmtitel sagt Regisseur Torsten Eckold: „Die Zeit in den Kinderheimen, im Jugendwerkhof und die Inhaftierung im Gefängnis war eine verlorene Zeit, die den Betroffenen ihre Kindheit und Jugend genommen hat. Mit dem Film versuchen wir, diese Zeit einzufangen und gegen das Schweigen, vielleicht auch gegen das gesellschaftliche Schweigen anzukämpfen.“
Der Dokumentarfilm entstand in Zusammenarbeit mit dem Projekt DENKOrte des Thüringer Archivs für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“. Projektkoordinatorin und Redakteurin Stefanie Falkenberg sagt zur Motivation: „Kürzlich hat eine neue Studie der Universität Leipzig ergeben, dass die Sehnsucht nach der DDR weiterhin erstaunlich groß ist. Unser Film beleuchtet anschaulich und sehr fühlbar eine andere Wirklichkeit der DDR, die mit Sicherheit niemand für sich oder seine Familie zurück möchte.“ Die Historikerin plädiert dafür, dass in Fragen der Aufarbeitung von SED-Unrecht den Zeitzeugen mehr zugehört wird. Filmemacher Torsten Eckold berichtet, dass die größte Herausforderung bei der Umsetzung darin bestand, das Vertrauen der Zeitzeugen zu gewinnen, damit sie vor die Kamera treten und über ihre Erlebnisse berichten. An der 90-minütigen Dokumentation wirken als Experten der Politologe Christian Sachse sowie Manfred May mit, der seit Jahrzehnten als Anlaufstelle für ehemalige Heimkinder in Thüringen fungiert und zum Thema eine eigene Buchreihe herausgibt.

Entstanden ist „Verlorene Zeit – Gegen das Schweigen“ durch Mittel der Filmförderung des Freistaats Thüringen, der Thüringer Staatskanzlei, private Spenden im Rahmen einer Crowdfunding-Kampagne der Stadtwerke Jena sowie mit Unterstützung der Geschichtswerkstatt Jena und der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen.
Im Anschluss an die Filmpremiere besteht die Möglichkeit, mit den Filmteam und anwesenden Protagonisten ins Gespräch zu kommen. Eine zweite Kino-Veranstaltung findet am 23. November 2024 (17 Uhr) ebenfalls im Schillerhof-Kino in Jena-Ost statt.

Premiere mit Filmgespräch am 30. Oktober 2024, Beginn: 18 Uhr (Blauer Saal)

Film und Gespräch mit dem Filmteam am 23. Novemver 2024, Beginn: 17 Uhr (Blauer Saal)

Karten-Reservierungen für beide Kino-Veranstaltungen unter: www.schillerhof.org

Meldung vom 01. Oktober 2024

Termine der Geschichtswerkstatt Jena im Herbst 2024

Am 3. Oktober (Tag der Deutschen Einheit) bietet unser Vereinsmitglied Detlef Himmelreich eine historische Stadtführung zum Thema "35 Jahre Mauerfall und Friedliche Revolution" an, Beginn: 14.30 Uhr, Treffpunkt: Tourist-Information, Markt 16. Ab 15.45 Uhr zeigen wir in der Rathausdiele (historisches Rathaus) den 3. Teil unseres Videoporträts zu Gegenwart und Geschichte der Städtepartnerschaft Erlangen-Jena.

Am 30. Oktober hat der Dokumentarfilm "Verlorene Zeit Gegen das Schweigen" über das Durchgangsheim der DDR-Jugendhilfe Schmiedefeld, den Jugendwerkhof Wolfersdorf und das Jugendhaus Hohenleuben unseres Vorstandsmitglieds Torsten Eckold und Stefanie Falkenberg (DENKOrte-Projekt, ThürAZ) im Jenaer Schillerhof-Kino Premiere, Beginn: 18.00 Uhr (Blauer Saal). Kartenreservierungen HIER.

Am 23. November (Samstag) um 17 Uhr wird der Film nochmals im Schillerhof-Kino gezeigt, der Regisseur bietet im Anschluss für Interessierte ein Filmgespräch an. Karten können beim Kino erworben werden: www.schillerhof.org

Am 3. Dezember zeigen wir um 18.30 Uhr in der Rathausdiele (historisches Rathaus) eine filmische Zeitzeugenwerkstatt aus Anlass von 35 Jahren Friedliche Revolution in Jena mit anschließender Diskussion.

 

Hohenleuben, 2024. Fotograf: Torsten Eckold

Meldung vom 27. September 2024

Filmrezension: „Die Unbeugsamen 2 – Guten Morgen, ihr Schönen!“

„Die Unbeugsamen 2“ von Torsten Körner ist die Fortsetzung des 2021 entstandenen ersten Teils, in dem der 1965 in Oldenburg geborene Regisseur „unbeugsame“ Politikerinnen der Bonner Republik porträtierte – einer der erfolgreichsten Dokumentarfilme der vergangenen Jahre.

Der 110 Minuten lange zweite Teil startete Ende August 2024 in den deutschen Kinos. Darin dreht sich alles um die „unbeugsamen“ Frauen im Osten, ihre Bedeutung und Rolle in der DDR-Gesellschaft und wie unterschiedlich diese im Rückblick erinnert wird. 15 ostdeutsche Frauen geben spannende Antworten darauf, was es für sie persönlich oder ihre Mütter bedeutete, in der DDR als Frau den eigenen Weg zu gehen und mit welchen Schwierigkeiten sie dabei konfrontiert waren. Am Ende gibt der Film auch einen Einblick, wie es für die Befragten nach der Wiedervereinigung weiter ging und wie sich die Veränderungen nach 1990 auf Leben und Alltag ausgewirkt haben.

 

„Guten Morgen, du Schöne“

„Die Unbeugsamen 2“ ist eine eindrucksvolle Dokumentation über starke, emanzipierte Frauen. Erzählt werden Geschichten über das Erwachsenwerden trotz Mauer und Begrenzungen. Die Aussagen der Befragten werden mit zahlreichen historischen Fotos und Songs – von Silly über Gerhard Gundermann bis Patti Smith – ergänzt, was dem ganzen Streifen eine lockere, aber nicht unernste Atmosphäre verleiht und teilweise auf fast humoristische Art und Weise die Zitate der Interviewten bestärkt oder infrage stellt. Der Untertitel des Films ist eine Anspielung auf das DDR-Kultbuch „Guten Morgen, du Schöne“ von Maxie Wander. Im 1977 erschienenen Protokollband stellt die Autorin, ähnlich wie die jetzige Filmdokumentation, die Bedürfnisse, Konflikte und Herausforderungen von Frauen in der DDR in den Mittelpunkt. Vor allem den Wunsch nach sexueller Selbstbestimmung, echter Gleichberechtigung und ehrlicher Anerkennung – auch durch (ihre) Männer. Offen und unverstellt erzählen die ausgewählten „Ostfrauen“ dem westdeutschen Regisseur aus ihren Lebens- und Liebesumständen. Archivaufnahmen und Ausschnitte aus DEFA-Dokumentationen, die leider nicht zugeordnet werden, sorgen für eine optische Gegenüberstellung. Auch die farblich klar gesetzten Kapitelwechsel passen gut ins Bild und sorgten dafür, dass während des Schauens eine durchweg positive Grundstimmung zu spüren ist.

Jede der Interviewten – geboren zwischen 1930 und 1969 – steht mit ihrer Biografie für einen anderen Aspekt der DDR-Vergangenheit, die Körner in seiner filmischen Collage kunstvoll zusammenführt. Während Amrei Bauer über den Freiheitskampf ihrer Mutter, der Malerin Annemirl Bauer, berichtet, der sich vor allem über ihre Bilder ausdrückte, erzählt Katrin Seyfarth davon, was es bedeutete, sich als Frau am Arbeitsplatz gegen laute(r) Männer und deren Macho-Verhalten durchzusetzen. Sie arbeitete als Blockwalzerin in der Maxhütte Unterwellenborn. Brunhilde Hanke wiederum berichtet von ihrer Zeit als Oberbürgermeisterin von Potsdam.

Immer wieder spielt ein Thema eine zentrale Rolle: Der Widerstand gegen das Patriarchat. Solveig Leo wurde mit 23 Jahren zur damals jüngsten LPG-Vorsitzenden in der DDR gewählt. Sie veranschaulicht durch witzige Anekdoten, wie Männer ihr vorwarfen, dass diese Aufgabe für sie als junge Frau niemals zu stemmen wäre, oder wie sie ihr unterstellten, Lieferanten würden ihr keinen Respekt entgegenbringen. Diese und manche weitere Episoden im Film hinterfragen die Wirklichkeit der vielbeschworenen Gleichberechtigung in der DDR, gerade wenn es um tatsächliche Führungspositionen ging. Bestes Beispiel dafür ist die Zusammensetzung des SED-Politbüros – eine Riege alter, asexuell wirkender Männer.

 


Ein großer starker Baum
Die befragten Frauen, die oftmals Mutter, Werktätige und Hausfrau in Personalunion waren, bestätigen im Film kollektiv die Aussage, dass echte und vollständige Gleichberechtigung auch in der DDR eine Utopie blieb. Der wohl wichtigste positive Aspekt war die finanzielle Unabhängigkeit, die es den DDR-Frauen in der Regel erlaubte, ein weitgehend von männlicher Bevormundung befreites Leben zu führen. Mit kernigen Aussagen, humorvollen Anekdoten und wunderschönen Monologen zeichnet der Film ein differenziertes Bild der „Unbeugsamen“ im Osten. Beispielhaft ist ein Zitat von Katrin Seyfarth, die an einer Stelle sagt: „Dieses Bild, was ich von der DDR hatte, war wie ein großer starker Baum. Und ’89 ist für mich dieser Baum umgefallen und ich habe gesehen, der Baum hatte keine Wurzeln.“ Im Anschluss redet die frühere Stahlwerkerin und Volkskammer-Abgeordnete darüber, dass es "erschütternd“ für ihr Weltbild war, dass so viele Menschen die DDR nicht (mehr) als ihre Heimat ansahen.

Obwohl die Vielfalt der porträtierten Frauen überzeugt, sind es in gewisser Weise doch auch Rollenmodelle innerhalb der DDR-Gesellschaft, die Körner hier zusammenbringt, denn voneinander wussten die Interviewten im Vorfeld nicht. Es sind weitgehend intellektuelle Frauen aus Kunst und Kultur, die den Kreis der „Unbeugsamen“ bilden. Darunter die Schauspielerin Katrin Sass, die Schriftstellerin Katja Lange-Müller, die Malerin Doris Ziegler, die Musikerin Tina Powileit und die Illustratorin Anke Feuchtenberger. Stärker als in anderen Dokumentationen zum Thema „Frauen in der DDR“, die dem „Mythos Ostfrau“ huldigen, berichten hier Ulrike Poppe und Gabriele Stötzer über kreative Opposition gegen den SED-Staat und politische Haft. Auch das Thema Gewalt in Ehe und Partnerschaft wird deutlich angesprochen.


Unbeugsam – bis heute
Einzig, dass hier vornehmlich erfolgreiche und prominente Frauen zu Wort kommen, ist etwas kritikwürdig. Es wäre interessant zu sehen, ob und wie eine ostdeutsche Regisseurin andere Schwerpunkte gelegt oder die Auswahl der interviewten Frauen verändert hätte. Obwohl vergleichbare Dokumentarfilme wie „Frauen in Landschaften“ von Sabine Michel, geboren 1971 in Dresden, ebenfalls „nur“ bekannte ostdeutsche Politikerinnen aus dem politischen Betrieb begleitet.

Es ist die Historikerin Annette Leo, die zusammenfassend anmerkt, dass die Emanzipation der Frauen wohl das Beste am Erbe der DDR sei. Mit Sarkasmus kommentiert Dr. Marina Grasse, erste und einzige Gleichstellungsbeauftragte der DDR-Regierung, die Wirkungen der ostdeutschen Frauenbewegung auf das neue Land. Den von ihr beauftragten „Frauenreport ’90“ wollten viele Männer am liebsten sofort wieder einstampfen lassen.
Körners Dokumentation gelingt es ohne erhobenem Zeigefinger, bestehende Vorurteile aufzubrechen und dabei unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen lässt. Einer baldigen Ausstrahlung im Fernsehen und Stream darf man mit Vorfreude entgegen sehen. Zu empfehlen ist der Film allen, die sich für die Geschichte der DDR interessieren und Einblicke zum Verhältnis der Geschlechter im SED-Staat erhalten wollen. Aus diesem Grund spreche ich eine klare Sehempfehlung aus: satte 8,5 von 10 Punkten!


Michel-Odin Späth
Geschichtsstudent, Jena

Meldung vom 16. September 2024

Wer hat bisher noch nicht gezeigte Fotos der Friedlichen Revolution in Jena aufbewahrt?

Wichtige Ereignisse bleiben (vor allem) durch Fotos im städtischen Gedächtnis. Für die jüngere Stadtgeschichte Jenas gilt dies insbesondere für die Friedliche Revolution, die sich in diesem Jahr zum 35. Mal jährt.

Für ein Projekt der Geschichtswerkstatt Jena im Herbst suchen wir nach Fotomaterial und privaten Schnappschüssen aus den Monaten des Umbruchs 1989/90 in Jena.

Wer hat bisher unbekannte beziehungsweise noch nicht gezeigte Fotos aus diesem spannenden Zeitraum (in Jena) aufbewahrt und kann uns diese zur Verfügung stellen?

Darunter vielleicht Aufnahmen der Fürbittandachten in der Stadtkirche und den später regelmäßigen Demonstrationen, Bilder von Kundgebungen, Veranstaltungen und Protestplakaten. Oder auch Fotos aus dem Umfeld der Stasi-Besetzung (an der Gerbergasse) am 4. Dezember 1989 und den Folgetagen.

 

 

Wir freuen uns über Ihre Kontakte und Reaktionen.

Bitte an: Daniel Börner, Projektmanager Geschichtswerkstatt Jena

E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! oder über unser Kontaktformular.

 

Das gezeigte 89-Foto stammt von Dieter Urban, damals Fotograf der Zeitung "Volkswacht".

Im Vordergrund (mit Parka) der friedliche Revolutionär Claus Suppe aus Jena. Quelle: GWS-Archiv

Meldung vom 30. August 2024

Aufarbeitung in Zahlen – Aktualisiertes Heftregister der „Gerbergasse 18“

Wir haben mal wieder unser umfangreiches Heft-Register aktualisiert und überarbeitet. Über die PDF-Datei lassen sich bequem sämtliche Inhaltsverzeichnisse der bisher 111 erschienenen Hefte plus Sonderausgaben der „Gerbergasse 18“ durchstöbern, nach Schlagwörtern und Begriffen suchen oder beteiligte Autorinnen und Autoren finden.

 

Hier einige Kennzahlen und Funfacts aus 29 Jahrgängen „Gerbergasse 18“ seit 1996:

- 5318 Seiten in insgesamt 111 Heften und Sonderausgaben

- 1227 thematische Beiträge

- 277 Rezensionen

- 68 Interviews

- 488 beteiligte Autorinnen und Autoren

- 23,7 Kilogramm Gesamtgewicht

- 39 Regal-Zentimeter

 

Nachbestellungen, Anfragen und Wünsche bitte über unser Kontaktformular.

Meldung vom 26. August 2024

Der Hund des Odysseus – Vor 60 Jahren wurde ich aus Waldheim entlassen

Als morgens um 4.00 Uhr am 14. August 1964, einem Freitag, unsere Zelle im Zuchthaus Waldheim aufgeschlossen wurde, sagte der Schließer von der „Volkspolizei“ zu mir: „Strafgefangener Bilke, Sie gehen heute nicht arbeiten!“ Eine Begründung wurde nicht gegeben. Am selben Tag noch wurde ich in eine andere Zelle verlegt, wo schon zwei Gefangene auf mich warteten: Ein Westberliner Student, der wegen Fluchthilfe verurteilt war, und ein älterer Arbeiter, der schon zehn Jahre Zuchthaus abgesessen hatte und der, da seine Frau inzwischen in Westdeutschland lebte, nach der Entlassung über die innerdeutsche Grenze hatte fliehen wollen, noch einmal wegen „Republikflucht“ zu anderthalb Jahren verurteilt worden war.
Am 21. August, einem glühend heißen Hochsommertag, holte uns ein Kommando der „Staatssicherheit“ in einem Transportwagen ab, auf dem die Aufschrift „Frische Fische“ zu lesen war, und brachte uns nach Berlin-Hohenschönhausen, wo wir drei Tage blieben. Dort bekamen wir auch unsere Zivilsachen zurück und wunderten uns, wie höflich und zuvorkommend wir von der Wachmannschaft behandelt wurden. Wahrscheinlich hätten sie uns auf Wunsch auch Himbeereis gebracht.
Am 24. August wurden wir ins Gefängnis Magdalenenstraße gefahren, das im Rückgebäude des „Ministeriums für Staatssicherheit“ in der Normannenstraße in Berlin-Lichtenberg lag. Über dieses Gefängnis hat der Schriftsteller Jürgen Fuchs (19501999), auch ein politischer Häftling, später das Buch „Magdalena“ (1998) geschrieben. Hier wurden wir einzeln hohen Stasi-Offizieren zugeführt, die uns erklärten, wir würden morgen „wegen guter Führung“ entlassen und mit Bussen an die „Staatsgrenze West“ gebracht. Sollten wir unterwegs auf Rastplätzen der Autobahn mit westdeutschen oder Westberliner „Transitreisenden“ ins Gespräch kommen, sollten wir sagen, wir wären eine „westdeutsche Reisegesellschaft“, allerdings widersprach dem die Ostberliner Autonummer.
Auf der letzten Bank in unserem Bus saß ein einfacher MfS-Mann mit einem Wäschekorb voller belegter Brote, damit wir nicht halbverhungert im Kapitalismus ankämen, aber niemand von uns kam auf den Gedanken, von diesen Broten zu essen. Bei Jena in Thüringen steuerte der Bus einen Rastplatz an, jetzt stiegen zwei Rechtsanwälte in unseren Bus, Wolfgang Vogel aus Ost-Berlin und Jürgen Stange aus West-Berlin, die uns erklärten, dass wir freigekaufte Häftlinge wären. Wir sollten aber auf keinen Fall darüber sprechen, keine Interviews in Zeitungen, Hörfunk und Fernsehen geben, weil die DDR-Regierung den Freikauf sonst einstellen könnte.
Später hielten unsere beiden Busse in einem Waldstück an der innerdeutschen Grenze, dort wartete auf uns ein Bus mit Hanauer Nummer, in den wir einstiegen. Dann fuhren wir dieselbe Strecke über Wartha-Herleshausen nach Hessen, über die ich 1961 eingereist war. Auf der westdeutschen Seite stieg der Rechtsanwalt Alfred Musiolik in unseren Bus, der uns bis zu unserem Nachtquartier im Schloss Büdesheim begleitete. Es war inzwischen dunkel geworden, wir fuhren jetzt die innerdeutsche Grenze entlang, und Musiolik sagte einen Satz, den ich nie vergessen werde: „Wenn Sie nach links schauen, wo es so hell erleuchtet ist, das ist die Bundesrepublik Deutschland! Und rechts, wo es finster ist wie in der Seele von Herrn Ulbricht, das ist die DDR, die Sie eben verlassen haben!“
Nach Mitternacht hielten wir noch einmal auf der Autobahn in Mittelhessen und bekamen alle eine Tüte überreicht mit belegten Brötchen, einer Tüte Milch, Apfelsinen und Zigaretten. Warmer Nachtwind strich durch die Felder, Korngeruch lag in der Luft. Da standen wir, „Staatsfeinde“, der Freiheit entwöhnt, aber voller Zuversicht. Ich gab dem Busfahrer meine Zigaretten und die Telefonnummer meiner Eltern und bat ihn, meine Mutter anzurufen. Nach der Ankunft aber im Schloss bat ich ihn, nicht anzurufen. Was macht meine Mutter, wenn sie nachts um 2.00 Uhr erfährt, ich käme morgen zurück?
Als wir am nächsten Morgen aufwachten, sahen wir seit Jahren ein Fenster ohne Gitter! Ein herrlicher Anblick! Im Frühstückraum saßen wir frisch Entlassenen an gedeckten Tischen, es gab frische Brötchen, Wurst und Butter und Bohnenkaffee, von dem wir Herzklopfen bekamen, weil wir ihn nicht mehr gewöhnt waren. Drei offizielle Herren waren auch erschienen: von der Lagerleitung, von der Landesregierung in Wiesbaden, von der Bundesregierung in Bonn. Und alle drei Herren sprachen mit Hochachtung von uns, dass wir uns in einer Diktatur für Demokratie und Freiheit eingesetzt hätten. Wir waren gerührt. Neben mir saß ein Häftling aus Bautzen II, der Erich Loest kannte. Erich, dessen Frau ich im Oktober 1959 in Leipzig heimlich besucht hatte, war 1958 zu siebeneinhalb Jahren wegen „konterrevolutionärer Gruppenbildung“ verurteilt worden und wurde vier Wochen nach mir zu seiner Frau Annelies nach Leipzig entlassen.
Und dann ging alles ganz schnell! Vor einer Kommission musste ich Angaben über meine Haft und die Haftgründe machen, bekam 600 D-Mark in die Hand gedrückt: Begrüßungsgeld, Kleidergeld, Fahrgeld. Ich bestellte mir ein Taxi und ließ mich in das zwölf Kilometer entfernte Dorf Bruchköbel bei Hanau fahren, wo meine Eltern und meine drei Schwestern wohnten. Als wir vor dem Haus hielten, war alles verschlossen und niemand anzutreffen. Aber unsere Boxerhündin Bella stand hinterm Hoftor und wedelte vor Freude mit ihrem Schwanz. Als ich meine Hand über das Tor streckte, um sie zu streicheln, leckte sie meine Hände. Ich hätte fast geheult! Ich kam mir vor wie der griechische Sagenheld Odysseus, der zehn Jahre vor Troja gekämpft hatte und zehn Jahre durch die Ägäis geirrt war, bevor er auf seine Insel Ithaka zurückehren konnte. Als er seinen Hof betrat, erkannte ihn sein Hund Argos und starb.
Ich ließ mich zu unserem Hausarzt fahren, der aus Leipzig stammte und die DDR-Verhältnisse kannte. Der sperrte sofort seine Praxis ab, lud mich zum Frühstück ein und fuhr mich dann zum Hanauer Gymnasium, das meine Schwester Martina (14) besuchte. Sie kam ahnungslos die Schultreppe herab, sah mich stehen, warf ihre Tasche weg und fiel mir um den Hals. Meine Mutter, die als Krankenschwester arbeitete, holten wir dann im Krankenhaus ab. Ich musste ihr, als sie mich sah, entlegen laufen, weil ihr die Beine wegsackten. Auf der Rückfahrt nach Bruchköbel sagte sie dann: „Du gehst sofort in die Badewanne, Du stinkst nach Zuchthaus!“ Eine Woche später kam ein Brief aus Waldheim, dass im September wieder der nächste Besuchstermin für meine Mutter anstünde! Ich habe nur den Kopf geschüttelt.

Coburg, den 26. August 2024

Dr. Jörg Bernhard Bilke
Germanist

Meldung vom 30. Juli 2024

Neue Ausgabe der Zeitschrift „Gerbergasse 18“ mit Schwerpunkt HEIMAT und FREMDE erschienen

Das Verhältnis zwischen Heimat und Fremde umfasst oft schmerzhafte Erlebnisse. Eine Facette des Titelthemas dokumentiert das Coverfoto der neuen Ausgabe „Gerbergasse 18“ von Volker Döring. Der Ort Eythra, südlich von Leipzig, musste in den 1980er Jahren dem Braunkohletagebau weichen, so wie schon mehrere Dörfer zuvor. Der Fotograf erinnert sich an die Entstehung des Fotos 1986 auf dem überbaggerten Friedhof von Eythra: „Ich war im Eigenauftrag dort. Ein Freund, der aus dieser Gegend stammt, hatte mich auf die Situation aufmerksam gemacht. Anschließend wurden die Bilder in einer kleinen Ausstellung im Kreiskulturhaus in Treptow gezeigt in Zusammenhang mit der Vorführung des DEFA-Dokumentarfilmes ‚Erinnerung an eine Landschaft‘ von Kurt Tetzlaff. Ich fand die Zerstörung der Dörfer und der Umwelt damals bestürzend, aber wohl notwendig wegen der Braunkohlenabhängigkeit der DDR. Das entsprach wahrscheinlich der Haltung der meisten Leute. Dennoch waren derart kritische Fotoaufnahmen nicht gern gesehen, das fand in der DDR-Presse nicht statt. Eines der damals entstandenen Bilder wurde in einer Westzeitung veröffentlicht, auf Vermittlung von Harald Hauswald. Andererseits wurde eine Serie davon beim DDR-weiten Wettbewerb ‚Akt und Landschaft‘ gewürdigt. Es war eben damals in der DDR vieles ambivalent.“

Ambivalenz durchzieht auch die Beiträge im Themenschwerpunkt: die Zerrissenheit zwischen zwei Heimaten, quälende Fragen nach dem Weggehen oder dem Hierbleiben, das lebenslange Vermissen einer verlorenen Heimat und das komplizierte Ankommen in der Fremde, das Porträt der Dichterin Helga M. Novak, die ihrem ersten Gedichtband den Titel „ostdeutsch“ gab und deren Biografie sich zwischen Ost, West und Island bewegte. Flucht und Vertreibung führen weltweit zu Heimatverlusten. Doch wer definiert, für wen ein Ort oder Land neue Heimat sein darf? Und was passiert, wenn Heimatliebe in Fremdenhass umschlägt? Wann erreichen wir einen Zustand, in dem Herkunft weder Verdienst noch Makel ist? Wie Kaufleute mit Kommunisten Geschäfte machten, das ist Thema eines ausführlichen Beitrags über die kommerziellen Verbindungen des Volkswagen-Konzerns mit der DDR-Führung in den 1980er Jahren. Unter dem Titel „Mein Leben in Bildern“ werden Biografie und Werk des Arbeiterfotografen Franz Kräft dargestellt. In weiteren Artikeln geht es um ein Online-Erinnerungsportal für zu Unrecht Verurteilte der sowjetischen Militärtribunale sowie ein Ausstellungsprojekt zur unabhängigen Frauenbewegung in der DDR. Abgerundet wird die neue Ausgabe mit drei Buchbesprechungen, unter anderem zur deutsch-deutschen Fußballgeschichte und dem sowjetischen Geheimdienstterror.

Die aktuelle Ausgabe der „Gerbergasse 18“ (Heft 111) ist im lokalen Buchhandel oder direkt über die Geschichtswerkstatt Jena erhältlich.

Eine Inhaltsübersicht und Leseproben finden SIE hier.

Meldung vom 13. Juni 2024

Neue Ausgabe der Zeitschrift „Gerbergasse 18“ mit Schwerpunkt AUFARBEITUNG erschienen

Es ist ein typisch deutscher Begriff und kaum zu übersetzen: Aufarbeitung. Zum komplizierten Umgang mit der Aufarbeitung trägt sicher auch die breite Anwendung in den Medien und im Alltag bei. So sprechen wir verschiedenartig von einer historischen, gesellschaftlichen, moralischen oder juristischen Aufarbeitung. Unbestritten ist, dass jede Form der Aufarbeitung sowohl eine gemeinschaftliche Dimension hat wie auch eine persönliche Ebene besitzt – beides bedeutet Arbeit. Der Aufarbeitungsprozess profitiert dabei von unterschiedlichen Impulsen. Während die wissenschaftliche Forschung Analysen und Wissen bereitstellt, sind es engagierte Akteure vor Ort, die hartnäckig ein Thema untersuchen und die Aufarbeitung zu ihrer Lebensaufgabe gemacht haben. Aufarbeitung als Auseinandersetzung mit der Vergangenheit kennt keine Ablauffrist und auch keinen Schlussstrich. In der neuen „Gerbergasse 18“ wird das breite Feld der Aufarbeitung der SED-Diktatur aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, hinterfragt und bilanziert. Dabei ist Aufarbeitung nicht rückwärtsgewandt, sondern mischt sich in aktuelle Debatten ein. So zeigt die Historikerin Anke Geier unter dem Motto „Historisches Wissen hilft“, in welcher unsäglichen Unrechtstradition die Vertreibungsfantasien der Neuen Rechten mit Vertreibungsereignissen in zwei deutschen Diktaturen im 20. Jahrhundert stehen.
Auch das übrige Heft bietet wieder spannende Zugänge zu Themen der Zeitgeschichte und dem historisch-politischen Zeitgeschehen. Dargestellt wird etwa, wie die fakenews der DDR-Propaganda vom „Amikäfer“ 1950 eine Berufsbiografie zerstörten oder wie Vorkommnisse um einen öffentlichen Brunnen im „Orwell-Jahr“ 1984 in Greifswald zur Intervention der DDR-Geheimpolizei führten. Der Einblick in die wenig bekannte Geschichte der Freimaurerei in der DDR verdeutlicht, wie sich die Unterdrückung der freimaurerischen Organisation von der einen in eine neue Diktatur im Osten Deutschlands fortsetzte. Der Autor Utz Rachowski erinnert in einem persönlichen Nachruf an die im Januar 2024 verstorbene Ärztin Elisabeth Kunze, Frau und literarische Wegbegleiterin von Lyriker Reiner Kunze. Matias Mieth reflektiert aus Anlass einer Stolpersteinverlegung in Jena über den Stand der städtischen Diskussions- und Geschichtskultur.
In Rezensionen werden aktuelle Publikationen besprochen. Darunter ein umfangreiches Buch über Biografien, die durch die innerdeutsche Grenze schicksalshaft geprägt wurden, ein Jugendbuch über die Tunnelfluchten im geteilten Berlin, eine Studie über die Homosexuellenbewegung in Ost und West sowie eine Untersuchung über das Wirken der DDR-Auslandsspionage.
Die aktuelle Ausgabe der „Gerbergasse 18“ (Heft 110) ist wie immer im lokalen Buchhandel, ausgewählten Museen/Gedenkstätten oder direkt über die Geschichtswerkstatt Jena erhältlich.

Eine Inhaltsübersicht und Leseproben finden Sie HIER.

Meldung vom 07. Mai 2024

Gründungsmitglied und unermüdlicher Mahner. Erinnerung an den Jenaer Journalisten Frank Döbert (1955–2024)

Am 19. April 2024 starb Frank Döbert, der 1995 zur Gründergeneration der Geschichtswerkstatt Jena zählte. Beginnend mit der ersten Ausgabe 1996 steuerte der 1955 in Weißenfels geborene Journalist über viele Jahre historische Beiträge für die Zeitschrift „Gerbergasse 18“ bei, in Summe über 20 Texte. Zuletzt im Jahr 2014 zu einem seiner vielen thematischen Schwerpunkte, den Ereignissen rund um den 17. Juni 1953.

Zu den eindrucksvollsten und auch immer wieder nachgefragten Texten gehört Döberts Artikelserie „Nie gesühnte Verbrechen“ über das Jenaer Polizei-Bataillon 311 im Zweiten Weltkrieg. Im Jahr 2009 mündeten seine mehrjährigen Forschungen in einer viel beachteten Ausstellung im Jenaer Stadtmuseum. Zu weiteren Schwerpunkten seiner Arbeit als emsiger Chronist und investigativer Rechercheur gehörten die Geschichte des Unternehmens Carl Zeiss Jena im 20. Jahrhundert, Rüstung und Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg sowie die Aufdeckung der Jenaer Stasi-Vergangenheit und der Hintergründe des Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus in den 1990er Jahren.
Aufgrund vielfacher Nachfragen stellen wir die vier Beiträge zum Jenaer Polizei-Bataillon 311 aus den Jahren 2006 und 2007 hier online und möchten auf diesem Weg an Frank Döberts bleibende Leistungen für die historische Aufarbeitung erinnern.

Nie gesühnte Verbrechen. Das Jenaer Polizei-Bataillon 311 im Zweiten Weltkrieg

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Frank Döbert während eines Zeitzeugengesprächs im Jahr 2010 in der Geschichtswerkstatt Jena. Foto: GWS-Archiv

Meldung vom 15. April 2024

Langjährig in der Jenaer Opposition aktiv und zwei Mal inhaftiert. Nachruf auf Uwe Behr

Große Öffentlichkeit war nie sein Ding, obwohl er ein Widerständler war. Er gehörte zu den „Athleten des Jenaer Widerstands“ (Wolf Biermann) und hatte zwei mal unter den Kommunisten im Gefängnis gesessen (1976/77 und 1983).

Uwe Behr, geboren am 4. April 1956 in Berlin, starb mit 67 Jahren am 23. März 2024 in einem Hospiz in Woltersdorf. „Behrchen“, wie er von seinen Freunden genannt wurde, lebte von 1975 bis zu seiner Ausbürgerung 1983 in Jena und arbeitete in der Psychiatrischen Klinik als Krankenpfleger. Er engagierte sich in Lesekreisen und unterschrieb 1976 in der Jungen Gemeinde Jena-Stadtmitte gemeinsam mit 56 weiteren Personen die Protestresolution gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Wenige Stunden später drang ein Stasi-Kommando in die Jenaer Jahnstraße 10 ein, wo auch Uwe Behr ein Zimmer bewohnte. Der Hauptmieter Marian Kirstein wurde von der Stasi mitgenommen. Behrchen versteckte rasch die Unterschriftenliste in einem Staubsaugerbeutel. Zunächst unbehelligt geblieben, fuhr er nach der Hausdurchsuchung mit Gerd Lehmann zu Robert Havemann nach Grünheide und vergrub den Durchschlag der Unterschriftenliste im Wald. Nach ihrer Rückkehr aus Grünheide wurden auch Behr und Lehmann in Stasi-Untersuchungshaft gesteckt. Festgenommen waren zuvor bereits schon Thomas Auerbach (verstorben 2020), Kerstin Graf-Hinkeldey, Marian Kirstein, Bernd Markowsky, Walfred Meier (verstorben 2018) und in Erfurt Thomas Wagner und Gabriele Stötzer. Wenige Tage später kam noch Wolfgang Hinkeldey hinzu.
Nach neun Monaten Stasi-U-Haft wurden sieben Jenaer vor die Wahl gestellt: entweder Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR oder mehrere Jahre Haft. Dass sie freikamen, verdankten sie auch dem „Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus“ um Hannes Schwenger, Margret Frosch und Manfred Wilke in West-Berlin. Romy Schneider war hier die großzügigste Geldgeberin. Das war für die herrschende SED ein Dorn im faulenden Fleische, ging es dem Schutzkomitee doch um die Frage wie es mit der Freiheit im Sozialismus aussah und darum, Menschen mit abweichenden Meinungen aus dem Gefängnis frei zu bekommen. Als Einziger wurde Uwe Behr in die DDR entlassen, weil seine Eltern in der DDR-Handelsvertretung in Moskau beschäftigt waren. Verbunden damit waren auch Stasi-Zersetzungsmaßnahmen, die andere verunsichern und misstrauisch werden lassen sollten: Warum musste er die DDR nicht verlassen?
Behrchen engagierte sich weiterhin in Jena, hielt Kontakt zu den Ausgebürgerten und zum Schutzkomitee und war befreundet mit Matthias „Matz“ Domaschk, der 1981 bei der Stasi in Gera ums Leben kam. Dessen Festnahme durch Transportpolizisten hatte er bei einem Sonderhalt des Zuges von Jena nach Ost-Berlin in Jüterbog, im Abteil gegenüber im Gang sitzend, direkt miterlebt. Dass er und seine Freundin Ute keinen Mucks sagten, als Matz und sein Freund Peter „Blase“ Rösch abgeführt wurden, rettete sie vor der eigenen Verhaftung. Die Transportpolizei war nur auf die beiden anderen fixiert. Die Neuauflage des Buches von Peter Wensierski „Jena Paradies. Die letzte Reise des Matthias Domaschk“ bei  der Bundeszentrale für politische Bildung, das die Geschichte der Opposition zwischen 1976 und 1981 fokussiert schildert, ziert nun ein Observationsfoto mit Matthias Domaschk und Uwe Behr auf dem Motorrad.
Als sich die Jenaer Opposition zu formieren begann und Roland Jahn und Manfred Hildebrandt im Herbst 1982 inhaftiert werden, fertigte Behr Solidaritätspostkarten an mit dem Text „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht“ und unter Verwendung eines Porträtfotos des fotografierenden Manfred „Batti“ Hildebrandt. Andere griffen seine Idee auch im Westen auf und fertigten ähnliche Postkarten an: „Wo das Unrecht alltäglich ist, wird Widerstand zur Pflicht“ mit Fotos von Jahn und Hildebrandt, die im Gefängnis in Gera saßen.
Uwe Behr wurde deswegen erneut inhaftiert und kam erst Ende Februar 1983 nach mehreren Wochen zusammen mit anderen Inhaftierten wieder raus. Wie schon 1976 hatte es die Medienöffentlichkeit und Solidarität im Westen gegeben. Es folgte ein kurzer Jenaer Frühling, bei dem die kommunistische Staatsmacht vor erneuten Inhaftierungen zurückschreckte, obwohl sich die nun „Friedensgemeinschaft Jena“ nennenden Oppositionellen mit als staatsfeindlich betrachteten Plakaten öffentlich zeigten. Zudem verbreitete Behrchen selbstgefertigte Postkarten mit dem Aufdruck „Atomwaffenfreie Zone“.
Im Mai 1983 wurden im Rahmen der Stasi-Aktion „Gegenschlag“ etwa 100 Personen aus Jena, Weimar und Apolda in die Bundesrepublik abgeschoben. Viele hatten unter Druck Ausreiseanträge gestellt, auch weil sie als der Staatswohlgefährdung Bezichtigte keine Zukunft in der Diktatur sahen. Die meisten siedelten sich in Berlin-Kreuzberg an, so auch Uwe Behr.
Er wurde hier Sozialpädagoge und lebte in SO 61 mit Salli Sallmann und Utz Rachowski in einem Haus, die letzten Jahrzehnte im Haus seiner Eltern in Hessenwinkel am Dämeritzsee. Im vergangenen Jahr wurde Krebs diagnostiziert und zu Beginn dieses Jahres musste er ins Hospiz, wo er sich sehr gut betreut fühlte. Gefasst regelte er alles, was noch zu regeln war und empfing viel Besuch vor allem von seinen Freunden aus der Jenaer Gartenstraße 7 und der West-Berliner Liegnitzer Straße. Seine Freundlichkeit und sein trockener Humor werden seinen Freunden nun fehlen.

 

Gerold Hildebrand
Berlin

 

Bild oben: Uwe Behr im Herbst 1982 bei einem Liederabend von Peter Kähler in der Jenaer Goetheallee 25. Foto: Archiv Peter Picciani

Bild unten: Uwe Behr im Jahr 2022. Fotograf: Alexander Nöthen

 

Meldung vom 22. März 2024

Neue Ausgabe der Zeitschrift „Gerbergasse 18“ mit Schwerpunkt BILDWELTEN erschienen

Eine Tagung im November 2023 in Weimar fragte jüngst nach dem „fotografierten Sozialismus“ und wie die visuelle Aneignung eine gesellschaftliche Wirklichkeit erzeugt. Die Autorin Annett Gröschner beendete ihren Impuls mit dem warnendwerbenden Hinweis, sich trotz der Allverfügbarkeit von digitalen Bildspeichern einmal im Jahr die Zeit zu nehmen und ein herkömmliches Fotoalbum anzulegen – auch als haptisches Backup gegen unerwartete Speicherverluste.

Über unterschiedliche Zugänge nähern sich die Heftbeiträge dem Spannungsverhältnis zwischen Wirklichkeit und Inszenierung, welches das Medium Fotografie seit Anbeginn durchzieht. Waren Fotos einst lediglich Illustrationen von Geschehnissen, sind sie längst selbst zu vielschichtigen Quellen geworden. Nicht nur die Werke von professionellen Fotografen/innen, sondern auch private Fotosammlungen avancieren zum Gegenstand der historischen Forschung.

Mit der Visual History fragt eine eigene Disziplin nach der Visualität von Geschichte(n) und dem kollektiven Bildgedächtnis. Für die Jahrzehnte der SED-Diktatur mit ihren immanenten Fotografierverboten stellt sich die Frage, was nicht, selten oder nur unter persönlichen Risiken fotografiert wurde. Hier kommt den Archiven der Gegenüberlieferung eine Schlüsselrolle zu. Schrittweise haben sich in wenigen Jahrzehnten zwei gravierende Verschiebungen ergeben: Erstens sind wir fast alle zu Bildproduzenten geworden (messbar nur noch in Gigabyte), zweitens hat sich die Bildherstellung weitgehend vom greifbar-sinnlichen Material entkoppelt. Der Übergang von analoger zu digitaler Fotografie ist endgültig, der Unterschied zwischen Original und Kopie unmerklich. Auf der anderen Seite hat der Prozess der Digitalisierung für den umfassenden und demokratischen Zugriff auf Unmengen historischer Fotos gesorgt, weil wertvolle Bildbestände schonend gescannt und damit langfristig gesichert werden können. Dem gegenüber stellt die Bildgenerierung durch „künstliche Intelligenz“ ganz neue Herausforderungen an unseren quellenkritischen Umgang mit Medieninhalten. Und während „das Recht am eigenen Bild“ zum geflügelten Wort aufgestiegen ist, wird kontrovers über die Reichweite technischer Bildlöschung diskutiert. Der Berliner Fotograf Harald Hauswald, berühmt für seine Aufnahmen des DDR-Alltags der 1980er Jahre, stellt eine weitere Tendenz fest: „Alle fotografieren sich ständig, aber keiner will mehr fotografiert werden.“

Die aktuelle Ausgabe der „Gerbergasse 18“ (Heft 109), die wie immer im lokalen Buchhandel oder direkt über die Geschichtswerkstatt Jena erhältlich ist.

Eine Inhaltsübersicht und Leseproben finden Sie HIER.

 
 
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