Meldungen des Jahres 2017

Meldung vom 21. Juni 2017

„Matz“ – Matthias Domaschk – Symbol und Mensch

Am 16. und 17. Juni 2017 kamen Angehörige, Freunde und Gäste zusammen, um gemeinsam an das Leben von Matthias Domaschk zu erinnern. Matz, wie ihn seine Freunde nannten, starb am 12. April 1981 in der MfS-Untersuchungshaftanstalt Gera. Am 12. Juni 2017 wäre er 60 Jahre alt geworden.

 

Unser Matz – 1981 ein junger Mann, einer von Vielen

Matz war einer, der in seiner Jugend und in seinem Handeln stellvertretend für viele Jugendliche in der DDR stand. Er wolle ein ehrliches und repressionsfreies Leben. Das war ihm jedoch nicht vergönnt. Dafür trägt das SED-Regime insgesamt Schuld. Die Einzelschuld aber tragen die MfS-Mitarbeiter der ehemaligen MfS-Untersuchungshaftanstalt Gera der Abteilung IX sowie die ehemaligen Verantwortlichen und Mitarbeiter der MfS-Bezirksverwaltung (BV) Gera sowie der Kreisdienststelle (KD) Jena, im Gebäude der "Gerbergasse 18". Wir wissen nicht, wie sein Leben verlaufen wäre. Wir wissen aber, dass er am Leben sein könnte, seine Tochter und inzwischen seine Enkeltochter bewundern und begleiten könnte, so wie es Renate Ellmenreich kann, die Mutter der gemeinsamen Tochter Julia, die 1976 geboren wurde.

 

Öffentliches Gedenken in Jena und Erfurt

1. Stadtführuung

Organisiert wurde die erste Veranstaltung am 16. Juni vom Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“ (ThürAz). Zuerst führten Christian Hermann und Katharina Kempken vom ThürAz in einem gemeinsamen Stadtrundgang an Orte in Jena, die mit dem Leben von Matz verbunden waren. So kamen wir an die Stelle des ehemaligen Wohnhauses, wo er und Renate in Jena zusammenlebten. Auch die Universität spielte eine Rolle, weil hier Verknüpfungen zum Schriftsteller Jürgen Fuchs bestanden. Fuchs studiert in den 1970er Jahren bis zu seiner Relegation und Ausweisung aus der DDR im Jahr 1977 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Matz hatte 1975 und 1976 Texte und Gedichte von ihm in die Junge Gemeinde (JG) Stadtmitte hineingetragen. An diesem Ort berichteten abwechselnd Christian Hermann und Katharina Kempken vom Leben in der JG und den Folgen für Matz und viele andere Freunde, insbesondere in der Zeit kurz nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann im Jahr 1976. Die Akteure der Jungen Gemeinde protestierten im November 1976 gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann, in dem sie sich einer Protestresolution zahlreicher prominenter DDR-Künstler in Form einer eigenen Protestresolution anschlossen. Matz spielte bei der Absicherung der Verteilung und Verbreitung der Resolution eine wichtige Rolle. Ein Inoffizieller Mitarbeiter des MfS mit Feindberührung (IMB "Helmut Falke"), Dietrich Große, verriet die Aktion jedoch noch in der Nacht an die Stasi. Die Folge: Verhaftung und Verhöre von 41 Jugendlichen aus der Jungen Gemeinde und ihrem Umfeld. Neben den zahlreichen Verhören kam es 1977 dann zur Zwangsausweisung von sieben beteiligten Personen aus dem Gefängnis heraus in die Bundesrepublik, darunter die Bandmitglieder der Claus Renft Combo, Gerulf Pannach und Christian Kunert, sowie der Schriftsteller Jürgen Fuchs und der Stadtjugendwart der Jungen Gemeinde Thomas Auerbach. Das Ganze sollte für Matz später bei der Verhaftung im Jahr 1981 wieder eine zentrale Rolle spielen.

 

 

2. Uraufführung von Ausschnitten eines Musiktheaterstücks

Am Abend konnten wir Jochen Wich, ehemaliger Musiker der Jenaer Band „Uller“, und den Schriftsteller und Historiker Dr. Martin Morgner, selbst staatlicher Verfolgung in der DDR ausgesetzt, im Lokal Kaffeerösterei am Markt 11 begrüßen. Es folgte die Vorstellung des Musiktheaterstücks „Das verlorene Leben des Matthias D.“ (Komposition: Jochen Wich, Libretto: Martin Morgner). Die Dialoge im Stück erzählen vom Alltag in der DDR, aber auch von bedrückenden Fragen junger Leute. Es wurde deutlich, dass die Protagonisten im Stück nach Antworten suchten, nur ohne sozialistisches Dogma. Sie waren offen und bereit, Verantwortung für ihr Leben, die Gesellschaft und die Geschichte zu übernehmen. Sie wollten sich engagieren. Doch das war nicht im Interesse des repressiven SED-Staates, der die absolute Kontrolle über das Leben und das Denken seiner Bürger anstrebte. Konflikte waren vorprogrammiert. Und einer, der das nicht überlebte, einer, der jeder hätte sein können, war Matz.

3. Vorstellung der aktuellen Ergebnisse der Arbeitsgruppe „Matthias Domaschk 2.0“ in Erfurt

Am 17. Juni 2017 stellte die 2015 in Zusammenarbeit mit der Thüringer Staatskanzlei (TSK) eingesetzte Arbeitsgruppe „Matthias Domaschk 2.0“ im Erfurter Landtag ihre aktuellen Ergebnisse zu den möglichen Todesumständen von Matz vor. Ministerpräsident Bodo Ramelow (DIE.LINKE), der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, die ehemalige Lebensgefährtin von Matz und Mutter der gemeinsamen Tochter, Renate Ellmenreich, der Historiker Dr. Henning Pietzsch und der Rechtsanwalt Wolfgang Loukidis stellten sich nach einer Einführung des Moderators, Ulrich Sondermann-Becker (MDR), den Fragen der anwesenden Journalisten und Medienvertreter.

Für die Umsetzung erhält die Arbeitsgruppe (AG) personelle, logistische und finanzielle Unterstützung von der Landesregierung und Mitarbeiter der TSK, insbesondere durch Charis Klingohr und Michael Hasenbeck. Als großen Verlust musste die AG am 17. Mai 2017 den Tod des letzten unmittelbaren Zeitzeugen, Peter „Blase“ Rösch, hinnehmen. Blase, der von Anfang an Teil der AG war, wird die aktuellen Ergebnisse nun nicht mehr erfahren. Trotzdem wird die AG weiterhin ihre Arbeit vorantreiben und zum Abschluss führen, auch in seinem Andenken.

 

Ziele und entscheidendes Ergebnis der Arbeitsgruppe

Ziel der Arbeitsgruppe war und ist es, den Todesumständen von Matz nachzugehen und zu klären, warum, wann und wie er in der Stasihaft in Gera 1981 zu Tode kam. Renate Ellmenreich brachte es auf den Punkt: „Wir wollen die Wahrheit herausfinden“. Dass das schwer werden würde, war und ist allen Beteiligten der Arbeitsgruppe klar. Die Dokumentenlage ist dünn und die Zeitzeugen aus dem Bereich des MfS schweigen bis heute. Zugleich haben sie im ersten Prozess zur Aufklärung der Todesumstände in den Jahren 1991 bis 1993 mehrfach widersprüchliche Aussagen gegenüber der Staatsanwaltschaft gemacht. Aktuelle Aufgabe der Arbeitsgruppe war es daher, die vorhanden Quellen und Zeugenaussagen noch einmal systematisch zu prüfen, Indizien aus früheren Untersuchungen zu kontextualisieren und neu zu bewerten. Darüber hinaus wurden weitere Zeitzeugen und bisher nicht umfassend gesichtete Akten und Sekundärquellen einbezogen. Zuletzt wurde ein erneutes Gutachten an den renommierten Gerichtsmediziner Prof. Dr. Michael Tsokos (Charité Berlin) in Auftrag gegeben.

Die Untersuchungen von Tsokos gehen aktuell davon aus, dass
1. die beschriebenen und erkennbaren Strangmerkmale nicht mit dem Oberhemd des Toten als Strangwerkzeug in Einklang zu bringen sind und
2. auch wenn Abwehrverletzungen (zunächst) nicht zu erkennen seien, das Fotomaterial und die an der Zimmerwand des angeblichen Ereignisortes beschriebenen „Wischspuren“ die Annahme eines Hochziehen des Körpers rechtfertigen würden; beides spreche gegen ein Suizid.
3. eine erkennbare Verschattung des linken Auges als „blaues Auge“ gedeutet werden könne.

Die von Prof. Tsokos erfolgten Bewertungen sind für die AG von zentraler Bedeutung. Sie ergeben in Bezug auf die vorgefundenen und belegbaren Widersprüche in Akten und bei Zeugenaussagen die Annahme, dass jedenfalls der nicht mehr zur Abwehr fähige bzw. bereits verstorbene Matthias Domaschk an der Wand hochgezogen wurde. Das lässt nach Auffassung der Arbeitsgruppe eines ausschließen: eine Selbsttötung.

 

Roland Jahn vs. Bodo Ramelow

Es wurde schnell klar, dass sich zwischen dem Ministerpräsidenten und dem Bundesbeauftragten bekannte und aktuelle Problemfelder auftaten, die die umfassende Aufarbeitung der SED-Diktatur betreffen. Während Ministerpräsident Ramelow vor allem das Bemühen um die Aufklärung von Einzelschicksalen, wie jenes von Matz, in den Vordergrund rückte als wichtige Aufgabe seiner Regierung, vertrat Jahn als Bundesbeauftragter die Meinung, dass das systemische Unrecht der SED-Diktatur vor allem in seiner Partei DIE.LINKE, als Rechtsnachfolger der SED, nicht umfänglich aufgearbeitet wurde und wird. Der Ministerpräsident verwies seinerseits auf das Beispiel von zwei Abgeordneten der Linken-Partei im Landtag hin, wo dies öffentlich geschehe. In einem Gespräch gegenüber der AG vor der Kamera räumte der Ministerpräsident auf die Frage hin offen ein, ob die Aufarbeitung des Schicksals von Matthias Domaschk für ihn eher politisches Kalkül oder persönliche Haltung sei, dass sowohl politische Gründe aber eben auch seine persönliche Haltung dafür einstehen, das geschehene Unrecht wie auch die Todesumstände von Matthias Domaschk aufzuarbeiten, weil hier eindeutig Unrecht geschehen sei. Politisches Ziel sei es ebenfalls, über diese Form der Aufarbeitung den Prozess einer möglichen Versöhnung in der Gesellschaft voranzutreiben. Als Mensch sei ihm das ein persönliches Anliegen. Freilich könne und wolle er mit Blick auf sogenannte „Altkader“ in seiner Partei niemanden zwingen, sich der persönlichen Auseinandersetzung zu stellen. Dennoch sei er überzeugt, dass es weiterhin zentrale Aufgabe seiner Partei ist, sich dieser Herausforderung immer wieder neu zu stellen. Roland Jahn war und ist eher der Auffassung, dass die politisch organisierte Zentrierung der Aufarbeitung auf ein oder mehrere Einzelschicksale vor allem von der Gesamtschuld der SED-Nachfolgepartei DIE.LINKE ablenken soll. Gleichwohl stellte er abschließend und bei allem Zweifel einer „wirklichen Aufklärung“ der Todesumstände fest, dass ihm als damaligen Freund von Matz die Aufklärung des Todes ein großes Anliegen ist, und zwar nicht erst seit heute. Die Vorgänge in Gera und die Suche nach Erklärungen begleiten ihn seit 1981.

 

Dr. Henning Pietzsch

 

Fotos: Henning Pietzsch/Katrin Sauerwein

1. bis 3.: Stadtspaziergang am 16. Juni auf den Spuren von Matthias Domaschk in Jena

4. Premiere des Musiktheaterstücks in der Kaffeerösterei (Markt 11) in Jena

5. bis 6.: Pressekonferenz im Thüringer Landtag am 17. Juni in Erfurt

Inschrift des Denkmals für die Opfer der kommunistischen Diktatur in Jena.

 
 
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